Es war ein prophetisches Cover - wie sehr, das konnte die Redaktion der italienischen Vogue im Januar 2020 noch gar nicht ahnen. Die Titelfrau sitzt auf einem roten Stuhl. Sie trägt ein ärmelloses Streifentop, Herzkettchen, lange Hose. Sie weint. Aus dem Glas in ihrer wie kraftlos herabhängenden rechten Hand ergießt sich Rotwein auf den Fliesenboden. Die Frau ist schwarz. Sie ist außerdem abstrakt in Öl gemalt von der mosambikanischen Künstlerin Cassi Namoda. Im "E" des ikonischen Vogue-Schriftzugs verweist ein Sternchen auf die Fußnote der Seite: "No photoshoot was required in the making of this issue" - keine Fotoproduktion war erforderlich bei der Herstellung dieser Ausgabe.
Dies also war der Beitrag des italienischen Chefredakteurs Emanuele Farneti zum Kampf gegen Umweltverschmutzung und Klimawandel, dem sich alle 26 internationalen Ausgaben einen Monat zuvor, im Dezember 2019, verschrieben hatten in einer gemeinsamen Erklärung. Heute weiß man: Es war tatsächlich so viel mehr. Vier Monate später starb George Floyd, unter dem Knie des Polizisten Derek Chauvin neun Minuten und 29 Sekunden lang um Atem ringend, auf dem Pflaster von Minneapolis; sein Tod gab der "Black Lives Matter"-Bewegung einen Schub, den sie nie zuvor gehabt hatte. Zur gleichen Zeit machte die Corona-Pandemie Fotoproduktionen nahezu unmöglich, was zur Renaissance des gezeichneten Covers führte.
Alle diese Motive stecken im Titel von Vogue Italia 01/20 (einem von damals sieben Titelbildern), und wenn sie auch kein wissender Verstand da hineingepinselt haben kann, so betrachtet man das Bild heute doch mit vielfältigem Erkennen.
"Ich glaube, in der Mode geht es nicht nur um Kleider. Es geht auch um Kultur, um die Frage der Herkunft, um soziale Bewegungen, um ökonomische Bewegungen, um Rassismus, eigentlich um alles." Dieses Zitat der verstorbenen Vogue-Chefin Franca Sozzani taucht jetzt im Vorwort zu einem schönen Bildband auf: "The Fashion Year Book 2021" (Callwey). Geplant war, eine internationale Jury darüber befinden zu lassen, welche Cover, Editorials und Kampagnen des laufenden Jahres 2020 fotografisch am eindrucksvollsten sein würden. Das Jahr wurde dann zufällig zu einem, das die Mode stärker durcheinanderrüttelte als jemals zuvor. Verhandelt wurde nicht länger nur, welche Kleider wir tragen. Sondern auch, wer sie trägt, in welchen Zusammenhängen, zu welchen Konditionen. Nimmt man das "Fashion Year Book" zur Hand, kann man sich durch die Antworten nun regelrecht hindurchblättern.
Endlich ist Diversität in der Modewelt wirklich angekommen
Das Erste, was einem aus diesem Bildband entgegenschlägt, ist ein überwältigendes Gefühl von Einsamkeit und Abstraktion. Zum Jahresauftakt tigert eine charismatische Clique von sieben schwarzen Models noch feiernd und Arm in Arm durch die Straßen von Manhattan ("Dancing in the Streets", Wall Street Journal). Später, als die Pandemie grassiert, stehen die Menschen einzeln und verloren vor namenlosen Hauswänden, in Sand- und Steinwüsten ("Moda Provera", GQ China) oder hart ausgeleuchtet in schwarz-weißen Studiokulissen, Architektur gewordenen Scherenschnitten mit eckiger Schulterpartie ("Perfect Form", Wallpaper). Die portugiesische Vogue zeigt auf ihrem April-Cover einen Mann und eine Frau, die sich küssen mit blütenweißem Mundschutz, und dieses Bild trifft den Vibe der Zeit so sehr, dass die Ausgabe nach zwölf Tagen ausverkauft ist und auf Instagram historischen Zuspruch findet. Sehnsucht nach Nähe, Berührung - wer könnte dies besser illustrieren als eine Branche, deren Produkte sich an unsere nackte Haut schmiegen?
Den zweiten, nicht minder starken Eindruck erzeugt die wie selbstverständliche Diversität. Wie lange haben die Verantwortlichen eigentlich beteuert, den diversen Ethnien, Körpern, Altersgruppen und Konzepten von Gender Zutritt zu verschaffen zu den Laufstegen und Fotostudios? Wie lange ist trotzdem nichts passiert? Dann plötzlich, Denkmuster einreißend, Sehgewohnheiten niederwalzend: der Durchbruch. Im heillosen Jahr 2020. Ausgerechnet. In der niederländischen Vogue stapft die Südsudanesin Niko Riam durch die vulkanischen Landschaften Lanzarotes und verbreitet in ihren Outfits von Paco Rabanne und Issey Miyake eine so hinreißende Entschlossenheit und Energie, dass man als Betrachter unwillkürlich lächeln muss. Das Supplement der Financial Times hebt den ehemaligen Flüchtling Dennis Okwera aufs Cover, wo er im maritimen Poloshirt so stolz und würdevoll aussieht, als wäre er für diesen Platz geboren. Das Magazin von Le Monde würfelt dann endgültig alles zusammen, Schwarz und Weiß, Alt und Jung, Schön und Bizarr, Straight und Queer - und dies ausgerechnet in einem Schmuck-Shooting, dem poliertesten aller polierten Genres der Mode.
2020 wird in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem eine britische Krankenschwester (Kittel: ja; Make-up: nein) vom Cover der britischen Vogue blickte, die Mode also politisch wurde. Und ganz egal, wie viel kommerzielles Kalkül dabei womöglich im Spiel war: Kreativer, durchlässiger, demokratischer war diese Branche nie.