Süddeutsche Zeitung

Mode:Ganz neue Seiten

Models posieren mit Romanen, Autoren sitzen in der Front Row. Bücher sind das Accessoire der Stunde - werden sie vielleicht sogar gelesen?

Von Anne Goebel

Vorgezogener Hochsommer in Deutschland, am Wochenende herrscht Badewetter, und wer es nicht rechtzeitig geschafft hat, sich einen Bikini mit angesagter Schnürung zu kaufen oder wenigstens knappe Micro Pants - halb so wild. Viel wichtiger ist, was neben Handtuch und Schwimmzeug an geistigem Futter in der Strandtasche steckt, und das sollte am See oder im Freibad dann gut sichtbar platziert werden: ein nicht zu dünnes, gern farbig auffallendes und insgesamt anspruchsvoll wirkendes Buch. Das empfiehlt jedenfalls Kendall Jenner in überraschender Doppelfunktion als Belletristik- und Beachwear-Expertin. 230 Millionen Instagram-Follower wissen, dass es dem amerikanischen Supermodel nicht im Traum einfiele, sich ohne Lektüre (und ohne winzigen Zweiteiler) auf eine Sonnenliege zu legen. Was möglicherweise mit Lesehunger zu tun hat. Vor allem aber mit einem neuen Lieblingskapitel, das die Mode gerade aufschlägt, wie üblich fehlt dabei jede Scheu vor Übertreibung: Alles muss jetzt hoch literarisch sein. Oder zumindest danach aussehen.

"A literary love-in", eine einzige dichterische Liebelei seien die Modewochen in diesem Frühjahr gewesen, konstatierte vor ein paar Wochen beinahe schwärmerisch die sonst auch mal kaltschnäuzige britische Vogue. Der Grund für den Jubel: Eine stilisierte Gold-Leselampe als Hut auf dem Laufsteg von Moschino in Mailand, in New York bei Proenza Schouler wurde eine eigens in Auftrag gegebene Kurzgeschichte an die Gäste der Schau verteilt anstelle der üblichen Kollektionsbeschreibung. Und für Loewe hatte Jonathan Anderson in Paris eine Lesung von Sylvia-Plath-Versen im Programm und die coole Romancière Zadie Smith in der ersten Reihe.

Balanceakt: Der Verweis auf Literatur lädt so ziemlich jeden Look mit zusätzlicher Bedeutung auf. Hier ein Model bei der Moschino-Schau Ende Februar während der Modewoche Mailand.So viel Intellekt sollte den Brokatkleidchen, Pluderhosen oder Latexminis zusätzlich Bedeutung verleihen, was beim Publikum gut ankam. Verständlich, denn wer fühlt sich nicht gern als Teil einer Gemeinschaft, die angesichts der Weltlage den Blick über Rocksäume und Corsagen hinaus auf Substanzielleres erweitert? Da war es nur konsequent, dass Demna Gvasalia bei Balenciaga ein ukrainisches Gedicht vortrug.

"High intellect is cool" sagt eine PR-Agentin, sie bringt Bücher und Brokatkleidchen zusammen

Ob so eine Performance auch nur einen (Mode-)Menschen dazu bringt, mehr Lyrik zu lesen oder sich für osteuropäische Schriftsteller zu interessieren, ist eine andere Frage. Um die geht es aber gar nicht, sagt Karah Preiss vom New Yorker Online-Buchklub Belletrist. Sondern um die Botschaft "High intellect is cool". Um auf der Dichter-und-Denker-Welle mit zu schwimmen, lassen sich die Marken alles Mögliche einfallen und zum Teil von Preiss beraten. Die PR-Agentin gilt als kluge Netzwerkerin, die früh gespürt hat, dass in der Mode ein Bedürfnis nach künstlerischem Gehalt in der Luft liegt. Spätestens seit Amanda Gormans Rezitation im Prada-Mantel bei Joe Bidens Amtseinführung ist das Potenzial auch den meisten anderen klar.

Der Designer Pierpaolo Piccioli hat für Valentino große Namen wie Donna Tartt oder Ocean Vuong gewonnen, deren Sätze dekorativ wie bedeutungsschwer auf Plakaten des italienischen Luxusmarke prangen. Demnächst verschickt das Haus an ausgewählte Empfänger drei druckfrische Exemplare noch nicht erschienener Romane - so wird Lektüre zur exklusiven Erfahrung. Das Pariser Schmucklabel Macon&Lesquoy hat Proust-Anstecker im Programm, bei der Männerschau von Dior im Dezember liefen die Models über eine stilisierte Riesenschriftrolle mit Text von Jack Kerouac. Chanel zeigte schon vor Jahren vor einer Bibliothekskulisse - da können die Entwürfe noch so gelungen sein, eine Art hehren Goldglanz verleiht ihnen erst eine imposante Bücherwand.

Gedrucktes steht, im Unterschied zur flüchtigen Mode, für Unsterblichkeit. Nicht ohne Grund war gerade ein Designer wie Karl Lagerfeld manischer Büchersammler, seine Bibliothek ist legendär. Allerdings sollte in den Fächern das Richtige stehen, und wer es sich leisten kann, überlässt die Mischung Profis. Auch daran lässt sich erkennen, dass das Buch als Lifestyle-Accessoire neue Bedeutung erlangt: Die Einrichter von Privatbibliotheken wie dem "Last Bookstore" in Los Angeles, der für Hollywood-Größen zu Hause die Schränke bestückt, haben Zulauf. Eine Regalwand ohne die schicksten Neuerscheinungen der Saison ist genauso wenig wert wie das falsche Kleid auf der Met-Gala.

Dass gerade die Mode heftig mit der Literatur flirtet, hat für die Wiener Soziologin Monica Titton auch mit kräftigem Gegenwind zu tun. "Es gibt seit einiger Zeit so schwerwiegende Kritik wie noch nie in der Geschichte der Mode", sagt die Dozentin an der Universität für Angewandte Kunst. "Da ist der Vorwurf, toxische Körperideale zu propagieren. Der Vorwurf des Rassismus, die Kritik an der Überproduktion, die für die Erderwärmung mitverantwortlich ist." Das "intellektuelle Aufrüsten" interpretiert Titton als Reaktion auf diese Angriffe, auf neuem Terrain soll sichtbar an Boden gewonnen werden.

Im Chanel-Bücherklub empfiehlt eine Fürstin ihre Lieblingstitel

Das geht am besten mit großen Namen. Man lädt Autoren zu Schauen in die Front Row, organisiert Lesungen wie die Designerin Tory Burch, die im Herbst Lisa Taddeo zu Gast hatte. Charlotte Casiraghi stellt im feinen Chanel-Bücherklub regelmäßig ihre Lieblingstitel vor. "Es geht darum zu zeigen: Die Mode ist fähig, an kulturellen Diskursen teilzunehmen", so Titton.

Eine neue Ernsthaftigkeit also, aber gerade die Diskrepanz zwischen dem Glitzerreich der Schönen und der Welt der Diskurse ist ja faszinierend. Vor allem, wenn die beiden Reviere sich berühren. Die Beziehung zwischen Marilyn Monroe und dem Schriftsteller Arthur Miller ist dafür immer noch das schönste Beispiel. Miller legte für eine Weile das Image des mahnenden Intellektuellen ab, indem er die begehrteste Frau der Welt heiratete. Und Marilyn konnte es wagen, für eine Fotoserie mal nicht nur ihren Körper in Szene zu setzen, sondern James Joyces "Ulysses" zu lesen, wenn auch im Badeanzug. Daneben wirken die heutigen Bikini-Posts von Kendall Jenner, konzentriert eine Buchseite fixierend, vollkommen unlässig.

Kaia Gerber hat Lesestoff dabei? Sieht "bookish" aus, jubeln die Fans

Und auch "fashion's favourite bookworm" (Vogue), also Bücherwurm Kaia Gerber, dreht ihre Lektüre meistens angestrengt in Richtung Fotografen. Trotzdem bekommt das Model in Blogs und Magazinen schöne Komplimente, wie im Februar, als Gerber am Rande der Mailänder Prada-Schau ihren Auftritt in Ledermantel und Adidas-Sneakers mit dem Roman "The Overstory" von Richard Powers garnierte. Das habe, konnte man danach lesen, unheimlich "bookish" ausgesehen.

Ob hölzern oder elegant, dem Literaturagenten Oliver Vogel gefällt die Umarmung von Kunst und Mode. "Ich bin dagegen, für die Literatur Naturschutzgebiete zu schaffen. Sie darf es mit der Wirklichkeit zu tun bekommen", sagt Vogel, der in Berlin für die Agentur Graf und Graf arbeitet. Dass Luxusmarken mit der kultivierten Veredelung am Ende ihre Umsätze anschieben wollen, stört ihn nicht. "Wenn Valentino endlich merkt, was wir Büchermenschen Tolles machen, finde ich das großartig." Und ihm sei, fügt er im Gespräch an, gerade eine überraschende Gemeinsamkeit aufgefallen - das Erfinden von Identitäten. "Niemand wird in der U-Bahn etwas Schmuddeliges lesen. Und man zieht sich da auch meistens einigermaßen ordentlich an", so Vogel. "Wir verkleiden uns mit Mode, und wir verkleiden uns mit Büchern." Klingt nach ganz neuen diskursiven Aussichten.

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