Süddeutsche Zeitung

Mode:Haut Couture

Der Modeschöpfer Rudi Gernreich war seiner Zeit voraus, nicht nur, weil er viel Haut frei ließ. Kein Wunder, dass die Entwürfe jetzt wieder entdeckt werden.

Von Jan Kedves

"Es ist absolut nichts Falsches an einem unbekleideten Körper, solange er Ausdruck von Freiheit ist." Das sagte der Modeschöpfer Rudi Gernreich im Jahr 1965. Damals stand die sexuelle Revolution erst ganz am Anfang, nackte Haut war immer noch skandalös, im Film, in der Fotografie, natürlich auch in der Mode.

Gernreich verstand seine Entwürfe, die stets sehr viel Haut frei ließen, damals allerdings gar nicht als Beitrag zur Ausreizung irgendwelcher Schamgrenzen. Für ihn war seine Mode einfach ein Vorschlag zur modischen Gleichberechtigung. Einer Gleichberechtigung der weiblichen und der männlichen Haut, sozusagen.

Zum Beispiel beschäftigte den Designer schon früh die Frage, warum man von Frauen erwartet, dass sie im Freibad oder am Strand ihre Brüste bedecken. Was ist an der weiblichen Brust so anders, so anstößig im Vergleich zur männlichen? Rudi Gernreich löste die Frage mit seinem "Monokini", einem Entwurf, der 1964 für einen Aufschrei in der Modewelt sorgte und sogar den Vatikan empörte: ein Badeanzug für Frauen, der oben von zwei Schulterträgern gehalten wird, aber unterhalb der Brüste abschließt, sodass diese unbedeckt bleiben. Der damalige Papst Paul VI. erklärte Gernreich dafür prompt zum "Feind der Kirche".

Zehn Jahre später führte Gernreich den Gedanken, dass Haut zunächst einmal geschlechtsneutral ist, in die andere Richtung weiter - mit seinem ebenso legendären "Thong", einem Unisex-Badeanzug, der, wenn Männer ihn tragen, auch deren Brust bedeckt. Der Clou befindet sich allerdings hinten: Der Thong bedeckt nicht den Po, sondern exponiert ihn, indem er - wie bei einem G-String-Slip - nur einen dünnen Streifen Stoff zwischen den Pobacken durchzieht. Gleichberechtigt liegen Hintern am besten in der Sonne.

Gernreich ist heute fast vergessen. Völlig zu unrecht

Dank solcher Ideen war Gernreich zu seiner Zeit der bekannteste und meistdiskutierte Modeschöpfer der USA. Geboren wurde er 1922 in Wien, er stammte aus jüdischem Elternhaus. 1938 floh er mit seiner Mutter vor den Nazis nach Los Angeles, wo er bis zu seinem Lebensende lebte und arbeitete. In den Sechzigerjahren gab es seine Badebekleidung in Kaufhäusern in ganz Amerika zu kaufen, seinen Einfluss bestätigte das Time Magazine 1967 mit einer Titelgeschichte. Auf dem Cover: Gernreich umringt von zwei weiblichen, viel Bein zeigenden Models, eine davon die androgyne Sechzigerjahre-Ikone Peggy Moffit. Er starb 1985 im Alter von 62 Jahren.

Dass er heute fast vergessen ist, kann nur daran liegen, dass es seine Entwürfe nicht mehr zu kaufen gab und dass auch sein Unisex-Parfüm "Rudi Gernreich", lanciert 1974, nicht mehr vertrieben wurde. 1991 erschien zwar beim Rizzoli-Verlag ein großer Fotoband über ihn, hier und da gab es auch Ausstellungen mit seinen Entwürfen. Im Vergleich zu anderen Designergrößen der Sechziger- und Siebzigerjahre, wie André Courrèges oder Paco Rabanne, ist er heute aber eine Randfigur der Mode.

Das soll sich nun wieder ändern mit der Rudi Gernreich GmbH, die die Designs des österreichisch-amerikanischen Modevisionärs neu produziert und vertreibt. Die Firma sitzt in Berlin statt in Los Angeles. Warum Berlin? Weil Gernreich hier einen tatkräftigen Fan hat, in Gestalt des Unternehmers Matthias Kind. Der kommt nicht aus der Mode, sondern aus der Musik. Kind ist Teilhaber der Kobalt Music Group, die 2000 in London gegründet wurde und unter anderem Popstars wie Nick Cave, die Pet Shop Boys oder Herbert Grönemeyer vertritt. Kind leitet in Berlin die deutsche Niederlassung des Unternehmens, das sich auf Rechte-Management und Distributions-Services für Musiker spezialisiert hat. Mode sei, sagt Kind, eine "neue Arena" für ihn. Als er Gernreich entdeckt habe, sei er schockiert darüber gewesen, "dass dieser Architekt der Moderne ein Dasein im Schatten der Designgeschichte fristen muss". Mit dem Neustart des Labels wolle er Rudi Gernreich "zu seinem verdienten Platz im Pantheon des Designs verhelfen".

Über seine Homosexualität sprach er nicht - schlecht fürs Geschäft

Bei Andreas Murkudis in Berlin, beim kanadischen Online-Retailer Ssense oder bei Net-A-Porter gibt es Gernreich-Erfindungen wie den Monokini und den Thong nun wieder zu kaufen. Auch Gernreichs Balaclavas - gemusterte Schalmützen aus Schlauchstrick, die nur einen schmalen Schlitz für die Augen freilassen. Sie wirken wie ein prophetischer, aus den Sechzigerjahren ins dritte Jahrtausend gebeamter Kommentar auf die Probleme dieser Tage. Denn so eine Balaclava bedeckt Mund und Nase, was sie coronatauglich macht, und der Gesichtserkennung kann man, wenn man will, damit auch entgehen.

Die Erlaubnis für die Reproduktion solcher Entwürfe holte sich Matthias Kind bei der American Civil Liberties Union, kurz ACLU, das ist eine der wichtigsten gemeinnützigen Bürgerrechtsorganisationen in den USA. Sie bekam nach Gernreichs Tod von dessen Partner Oreste Pucciani, mit dem Gernreich 31 Jahre lang zusammen gewesen war, die Rechte an Gernreichs Namen, seinen Designs sowie Teile seines Vermögens übertragen. An die Schenkung knüpfte Pucciani die Bedingung, dass die ACLU mit ihr die Bürgerrechte in den USA, besonders jene von Lesben und Schwulen, fördern und verteidigen solle.

Zu Lebzeiten äußerte sich Gernreich kaum öffentlich zu seiner Homosexualität: "Aus einem ganz einfachen Grund: weil es schlecht ist fürs Geschäft", sagte er einmal. Das heißt aber nicht, dass er nicht auch Aktivist war: Anfang der Fünfzigerjahre wurde er ein frühes Mitglieder der Mattachine Society, der ersten Homosexuellen-Organisation in den USA. Noch vor den New Yorker Stonewall Riots von 1969, die heute als Geburtsstunde der modernen LGBT-Bewegung gelten, leistete die Mattachine Society in Kalifornien - und ab 1956 auch mit Aktivistengruppen in Washington, New York, Chicago und anderen Städten - Lobbyarbeit für die Entkriminalisierung von Homosexualität in den USA. Bestandteil der Abmachung zwischen der Rudi Gernreich GmbH in Berlin und der ACLU ist es nun, dass Teile der Einnahmen an die Bürgerrechtsorganisation gespendet werden. Es hebt das Geschäftsmodell wohltuend ab von anderen Reanimierungen in der Mode, bei denen es vor allem um Profite geht. Im Mai wurden zum Beispiel die Gewinne aus den Monokinis, die über den Online-Shop auf rudigernreich.com verkauft wurden, an das "Women's Rights Project" der ACLU gespendet.

Die Berliner Filmemacherin Alexa Karolinski hat für diese Aktion ein Werbevideo gedreht. Karolinski, die gerade als Co-Produzentin und Drehbuchautorin der deutschen Netflix-Serie "Unorthodox" global gefeiert wird, lud für das Video einige junge, kalifornische Mütter mit ihren Babys an einen Pool in Los Angeles. Auf Youtube wird das Video hinter einer Altersschranke versteckt - als sei es Pornografie. "Dieses Video ist eventuell für einige Nutzer unangemessen", lautet der Warnhinweis. Dabei sieht man gar nichts Sexuelles, sondern eben Mütter, die in der Sonne im Wasser planschen und ihren Säuglingen die Brust geben. Mit so einem Monokini von Rudi Gernreich geht das ja ganz unkompliziert, die Brust ist schon draußen. Das ist mit einem Augenzwinkern gedreht, klar. Aber was daran unangemessen sein soll, versteht man nicht. Es scheint, als sei die Befreiung der Körper, die Rudi Gernreich zeitlebens verfolgte, auch im Jahr 2020 noch nicht verwirklicht. Was im Umkehrschluss nur bedeuten kann, dass seine Ideen immer noch aktuell sind.

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SZ vom 06.06.2020
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