Glenn Martens hat gefeiert die letzte Nacht, und so wie sich seine Stimme anhört, wäre man gern dabei gewesen. Der 38-Jährige sitzt im Showroom von Diesel in Mailand, ausgewaschene Kappe auf dem Kopf, dunkles Jeanshemd über hellem Jeanshemd, Sonnenbrille um den Hals gesteckt, wie es die Technokids in den Neunzigern trugen. Martens entschuldigt sich für seinen Kater, nur noch einen Cappuccino, dann könne es losgehen. Aber eigentlich muss dieser Mann sich natürlich für gar nichts entschuldigen, denn wenn einer in der Mode gerade Grund hat zu feiern, dann er.
Seine Couture-Kollektion Anfang des Jahres für Jean Paul Gaultier, wo er für eine Saison Gastdesigner spielen durfte, wird nicht weniger als Offenbarung beklatscht. Selten wirkte die höchste Schneiderkunst - oft ja eher Schleifen- und Spitzen-Penetration - so innovativ und modern und trotzdem noch respektvoll der Geschichte des Hauses gegenüber. Kleider schienen mit einem künstlichen Korallenriff überzogen, eingenähte Drähte sorgten für neue Proportionen und Volumen. Stoffmengen wurden kunstvoll drapiert und zusammengeknüllt, bis sie irgendwo zwischen Meeresbrandung und diesen Badezimmer-Tüllschwämmchen changieren. Schauspielerin Chloë Sevigny heiratete vergangenes Wochenende in einer dieser Kreationen. Jada Pinkett Smith trug ein Modell bei den Oscars, aber über Faltenwürfe wurde dort diesmal ja weniger geredet.
Ein paar Wochen später zeigte Martens seine erste Laufsteg-Show für Diesel, was, wenn man ehrlich ist, keine ganz dankbare Aufgabe ist. Der Jeans-Gigant hat in der Vergangenheit schon mit anderen Designern versucht, große Mode zu veranstalten. Ein erheblicher Teil des Publikums fand allerdings stets, dass die Jeans zwar ausgesprochen gut am Hintern sitzen, ihnen die Prêt-à-porters dazu aber ziemlich am selbigen vorbei geht. Vielleicht füllte Martens die große Fabrikhalle am Mailänder Stadtrand deshalb mit riesigen, Jeans tragenden Aufblaspuppen in aufreizenden Posen: viel heiße Luft, sexy, übertrieben, ironisch.
Die Models liefen zu lautem Technosound in kunstvoll bemalten oder geschredderten Jeans, Blousons oder langen Mänteln aus abrasiertem, ausgefranstem Denim, mit ultraknappen Croptops zu tiefsitzenden Hosen und Röcken, die auf Gürtelgröße geschrumpft waren. Das wiederum war überhaupt nicht ironisch, sondern eine ziemlich ernst gemeinte Ansage, den aktuellen Vibe der späten Neunziger und Nullerjahre für sich zu besetzen und Diesel zurück in seine goldene Ära zu führen, die bekanntlich genau aus dieser Zeit stammt. Die New York Times nannte Martens daraufhin einen der großen "Designer des Jahres 2022".
Eigentlich ist das keine Überraschung. Seit Jahren schon gilt der Belgier als großes Talent. Y/Project, das Pariser Label, dessen Chefdesigner er 2013 wurde, ist fürs Modevolk längst eine Art Delikatessenvertrieb. Konzeptionell, innovativ, nur überschaubar kommerziell. Tops sind mehrfach dekonstruiert oder geflochten, Jacken gerafft, aufgepumpt oder scheinbar falsch zusammengeknöpft, um ungewohnte, übertriebene Proportionen zu erzeugen. Seine Jeansentwürfe, die vorn einen tiefen V-Ausschnitt, lange Panele auf den Hosenbeinen oder seitlich Lamellen wie Ritterrüstungen mit Cut-outs haben, sorgten auch beim breiteren Publikum regelmäßig für Aufsehen - und für massenweise Kopien. Genau deshalb wurde Martens 2020 als Kreativdirektor zu Diesel geholt.
Sein Bruder ist Feuerwehrmann und verstand seine Mode "kein Stück"
Andererseits kommt der Erfolg auf ganzer Linie, also in allen Disziplinen und Preisklassen des Modebetriebs, doch ein bisschen überraschend. Denn Martens galt als "gut für die Nische", wie er es selbst empfunden hat. Ein extrem kreativer Kopf, der sich selbst und das Modedesign immer wieder herausfordert, aber nicht für den Massengeschmack taugt. Dass er sehr wohl jedes Segment abdecken kann - aktuell entwirft er noch eine Sportwear-Kooperation für Fila und bald auch Sportswear für Diesel -, habe er nicht nur sich selbst beweisen wollen, sagt er. "Meine Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, oder mein älterer Bruder, der Feuerwehrmann ist, verstehen meine Kollektionen für Y/Project kein Stück", sagt Martens lachend. "Aber Diesel, das kennen sie. Und mein Bruder trägt es auch."
So wie er selbst in seiner Jugend. Martens wuchs in den Neunzigerjahren in Brügge auf. Diesel war damals nicht einfach nur eine Marke, sondern fast eine Jugendbewegung. Die Werbung mit dem nicht ganz ernst gemeinten Motto "for successful living" bestimmte den Zeitgeist. Martens erinnert sich an ein Motiv mit zwei sich küssenden Männern. "Auf riesigen Plakaten! So etwas hatte ich noch nie gesehen." Die erste teure Jeans, auf die er sparte: natürlich eine Diesel.
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Nach der Schule studierte er an der Royal Academy in Antwerpen, eine der besten Modeschulen überhaupt. "Ich war anfangs immer kurz davor, rausgeschmissen zu werden", gibt Martens zu. Aber er biss sich durch, machte den Abschluss als Klassenbester und landete seinen ersten Job bei Jean Paul Gaultier. "Sogar mein allererstes Parfum war von Gaultier", erzählt Martens. "Ich bin nicht esoterisch oder so, aber erst Diesel, dann Gaultier - irgendwie schließt sich hier gerade ein Kreis für mich." In jedem Fall scheint Martens aktuell auf der Höhe seiner Zeit zu sein.
Dua Lipa und Rihanna trugen die neuen Diesel-Sachen frisch vom Laufsteg weg
Dass dieser Designer mit einem Händchen für Denim der richtige für sein Flaggschiff sein könnte, hatte Renzo Rosso bereits 2017 gespürt. In diesem Jahr gewann Martens den prestigeträchtigen "Andam-Award". Rosso, der Bauernsohn aus Norditalien, der mit Diesel aus dem Nichts ein Milliardengeschäft aufgebaut hat, saß in der Jury. Wie gut es mit dem Belgier allerdings laufen würde, hätte er sich wahrscheinlich selbst nicht träumen lassen. Beim Coachella Festival im April trat Justin Bieber mit knallroter Dieseljacke auf. Dua Lipa trug kürzlich einen Komplett-Jeans-Look, Rihanna einen rosafarbenen Lammfellmantel frisch vom Laufsteg. Die schmale Handtasche mit dem spacigen "D" als Logo ist restlos ausverkauft. Neunzigerjahre-Revival hin oder her, es sind schon auch Martens laute, aber nie plumpe Designs, die einen Nerv treffen.
Es durfte also ganz offiziell gefeiert werden. "Das ganze Team lebt ja Wochen vor der Show in totaler Anspannung, schiebt Nachtschichten. Partys sind immer auch ein Dank an alle." Aber wenn das Design gut ankommt, feiert es sich eben doppelt gut. Auch "Renzo" (Rosso) sei später noch "in diese abgewrackte Location außerhalb von Mailand" gekommen. Während der Italiener mit seiner Bodenständigkeit, die manche als Prolligkeit empfinden, in der Modewelt nach wie vor polarisiert, scheinen die beiden bislang ausgesprochen gut miteinander auszukommen. "Bei allem, was er erreicht hat, nimmt er sich selbst nicht zu wichtig, das imponiert mir", sagt Martens. Vielleicht weil er ähnlich tickt. Seine Mutter musste nach der Scheidung von seinem Vater nebenbei putzen gehen, um die Familie über Wasser zu halten. Martens hatte nie viel Geld zur Verfügung, die ersten Jahre als junger Designer in Paris erst recht nicht. Zum Ausspannen geht er bis heute am liebsten campen.
Der 66-jährige Firmenchef hat zwischenzeitlich den Showroom betreten und schaut sich nun allein, Teil für Teil, die neue Kollektion an den Kleiderstangen an. Der Patriarch, der mal gucken kommt, was die Schäfchen so treiben in seinem Laden. Über der Schulter trägt er eine braune Ledertasche, in dessen Flappe er ein paar Kugelschreiber geheftet hat. Das Modell hat noch das alte Irokesenkopf-Logo, es dürfte locker fünfzehn, zwanzig Jahre alt sein. Im Interview mit dem Branchenportal Business of Fashion träumte Rosso gerade wieder vom Börsengang seines Konzerns OTB, zu dem mittlerweile auch Maison Margiela, Marni, Jil Sander gehören. Aber Diesel ist nach wie vor der Treibstoff, ohne den nichts läuft. Mitte der Zehnerjahre machte die Marke empfindliche Verluste, nun sollen die Verkäufe wieder deutlich gestiegen sein. Insgesamt legte der Konzern 2021 um 18 Prozent zu, die Umsätze kletterten auf 1,5 Milliarden Euro.
Sein Großvater war Generaloberst und legte Wert auf absolute Pünktlichkeit
Martens beobachtet ihn von Weitem und amüsiert sich prächtig. Vielleicht fragt er sich gerade, was sein Boss wohl von den gürtelgroßen Röcken hält. "Entschuldigung, wo waren wir?", fragt Martens und fährt sich zum Wachrütteln einmal quer mit der Handfläche übers Gesicht. Schlafen ist keine Option, das nächste Interview wartet schon. Ob er schon in der Jugend wild gefeiert habe, will man zum Abschluss noch wissen. Techno, Gabber, die Neunziger halt, so wie auf dem Laufsteg? "Kennen Sie Belgien?", fragt Martens zurück. "Wir haben ja diese große Biertradition, deshalb sind wir eher ein Bar-Land. Also ich zumindest war immer eher der Bar-Typ." Sogar das Geld für seine erste teure Jeans habe er als Barkeeper verdient.
Aber früh aufstehen, das konnte er trotzdem immer. "Mein Opa war beim belgischen Militär. Generaloberst!", ruft Martens. Weil sich die Eltern früh scheiden ließen, verbrachte er viel Zeit bei den Großeltern. "Ich hatte wirklich eine schöne, liebevolle Kindheit, aber irre strukturiert. Um Punkt 16 Uhr gibt es Kaffee, um 16.30 Uhr wird ein Apfel gegessen, um 19.30 Uhr geht es ins Bett und so weiter", erzählt Martens. Auch wenn es gerade nicht so aussehe: "Ich bin ziemlich gut organisiert."