Eigentlich gleicht das Urteil "untragbar" in der Branche einem Todesurteil. Wenn Einkäufer neue Entwürfe damit als Geschmacksverirrung abstempeln, sind die finanziellen Folgen für ein Label meistens bitter. Neuerdings aber wittern alle das große Geld, wenn etwas - ganz wortwörtlich - untragbar ist. Die Rede ist von digitaler Mode, und schuld ist der aktuelle NFT-Hype.
"Digitale Sammlerstücke, digitale Mode und digitale Turnschuhe werden in naher Zukunft ein riesiger Markt sein", so lautete im Sommer 2019 die Prophezeiung von Marjorie Hernandez, Mitgründerin des Berliner Blockchain-Unternehmens Lukso. Nun haben Non-Fungible-Tokens (NFT), also blockchainbasierte Echtheits- und Eigentumszertifikate, virtuellen Besitz zu Rekordpreisen möglich gemacht: nicht nur von Bildcollagen (69,35 Millionen Dollar), Tweets (2,9 Millionen Dollar) oder Grundstücken in Computerspielen (1,5 Millionen Dollar), sondern tatsächlich auch von Turnschuhen. Bisheriger Höhepunkt: 3,1 Millionen Dollar, die beim Verkauf von 621 virtuellen Sneakerpaaren erlöst wurden.
Verantwortlich für diesen Deal war das Londoner Label Rtfkt. Der Name ist eine Elision des englischen Begriffs für Artefakt, das Fachgebiet des Labels die Zusammenarbeit mit Kultmarken und Zeitgeist-Größen, die besagten NFT-Sneaker wurden vom Webkünstler Fewocious gestaltet. Erdacht hat er dafür drei Graffiti-Ausführungen: eine für 3000 Dollar, eine für 5000 Dollar und eine für 10 000 Dollar. In sieben Minuten waren die digitalen Objekte ausverkauft. Als wäre das aber noch nicht genug, wurde der Großteil kurz darauf schon wieder für ein Vielfaches des Erstpreises auf Resale-Plattformen angeboten. Branchendienste wie Business of Fashion fragten daraufhin, ob jetzt der Moment gekommen sei, um in digitale Mode zu investieren.
Klingt wie Science-Fiction? Aber ja doch
Es gibt sie nämlich schon länger. Kleidungsstücke, die nicht auf ratternden Web- und Nähmaschinen für Menschen aus Fleisch und Blut entstehen, sondern an Computern und für deren digitale Abbilder. Dreidimensional programmiert und so auf Körper montiert, dass sie sich jeder Bewegung und Lichtstimmung anpassen. Klingt nach Science-Fiction? Aber ja doch.
Die erste und bekannteste Form von digitaler Mode sind Skins. Items, mit denen Gamer ihre Avatare in Videospielen individuell ausstaffieren können. Erhältlich sind sie gegen Leistung oder Aufpreis und so beliebt, dass Spieler, die über seltene Ausführungen verfügen, auf Ebay dafür vierstellige Summen verlangen können. Luxuslabels sind längst in dieses Geschäft eingestiegen. Louis Vuitton hat für das Spiel "League of Legends" entworfen, Gucci für "Pokémon Go", Burberry gerade erst für "Honor of Kings" - Fantasy-Fashion als Möglichkeit, um Neukunden zu gewinnen. Wichtiger ist aber wohl, dass man auch gleich echtes Geld damit verdienen kann. Das Unternehmen Dmarket, das einen Marktplatz für virtuelle Güter betreibt, schätzt, dass Menschen dieses Jahr 40 Milliarden Dollar für derartige Skins ausgeben werden.
Glaubt man Experten wie Rustin Sotoodeh, CEO eines Herstellers für ästhetische PC-Hardware namens Higround und nach eigenen Angaben "Hardcore Gamer", werden NFTs dafür sorgen, dass das Prinzip Skins auch bald außerhalb von Videospielen greift. Im Wall Street Journal verglich er ihren Kauf mit dem eines Paares echter Schuhe von Nike, das man anschließend aber nur im Geschäft tragen darf. Ergibt wirklich wenig Sinn. Dank digitaler Identität aber, so der 25-Jährige, könne man in Zukunft alle möglichen virtuellen Räume mit seinen Lieblingslooks betreten. Was natürlich voraussetzt, dass man auch einen persönlichen Avatar besitzt, den man in alle möglichen virtuellen Räume schicken kann. Aber daran wird ebenfalls bereits gearbeitet.
Mode ist eben nicht nur dazu da, um physische Körper zu verhüllen oder warm zu halten. Sie ist auch Ausdruck von Persönlichkeit und vermeintlichem Status und Mittel zur Distinktion. Vor allem im Internet ist das so, und dort insbesondere in den sozialen Medien. Instagram, Snapchat und Tiktok sind Selbstdarstellungsmaschinen, für die neue Outfits bekanntlich der beste Treibstoff sind, um Aufrufe, Likes, Kommentare und Shares einzufahren - kurzum: eine gute "Engagement Rate".
Noch ein paar extraterrestrische Farbeffekte gefällig? Nur her damit!
Womit man bei der zweiten Form von digitaler Mode wäre, nämlich jener, die heute schon jeder im Netz für seinen Social-Media-Auftritt shoppen kann. Kleidungsstücke und Accessoires, die im Nachhinein auf Fotos angebracht werden. Das Selfie mit einem Cosplay-Krönchen aus Onyx und Glasperlen schmücken, den schnöden Denimblouson durch eine Jacke mit extraterrestrischen Farbeffekten ersetzen: Was in der Realität nicht geht, lässt sich durch den Service spezieller Anbieter ausleben. Im Shop einfach ein Teil aussuchen, in den Warenkorb legen und beim Check-out noch ein Foto hochladen, auf dem man das Teil tragen will. Wenige Stunden später flattert die Datei instagramtauglich ins E-Mail-Postfach. Was in der Zwischenzeit passiert, ist filmreif.
"Wir arbeiten mit einer hochwertigen CGI-Software", sagt Gala Vrbanic von Tribute Brand, deren Spezialität die Fotomontage von Ballkleidern im Volumen und Hochglanz einer Jeff-Koons-Skulptur sind. CGI ist die Abkürzung für "Computer Generated Imagery". Auf der Technik basieren auch die Spezialeffekte in Kinofilmen wie "Matrix" oder "Transformers". Wie damit Mode angezogen wird, erklärt Vrbanic grob vereinfacht so: "Aus dem Foto, das uns der Kunde schickt, erstellen wir seinen Avatar und kleiden ihn mit dem gewünschten Teil. Anschließend produzieren wir ein CGI-Bild von ihm."
Zwischen 25 und 590 Euro kostet ein digitales Kleidungsstück von Tribute Brand. Ganz schön teuer für einen Post, aber immer noch billiger als viele Statement-Stücke aus echtem Stoff. Zudem ist jeder Entwurf streng limitiert. "Das haben wir vom physischen Modesystem übernommen. Es macht keinen Sinn, etwas für immer verfügbar zu machen." Mit anderen Worten: künstliche Verknappung. In ist, wer sich in einem seltenen Design zeigen kann. Wer es noch exklusiver will, kann auch gleich den hauseigenen Couture-Service nutzen.
Nachdem 2018 mit The Fabricant das erste Digitalmode-Label seinen Betrieb aufnahm, lief das Business gut an. Seit die Welt vergangenes Jahr auf Lockdown schaltete, läuft es bombastisch. Nicht nur Dutzende neue Marken sind entstanden, sondern auch Multibrandstores, die nach Vorbild von Mytheresa und Net-a-Porter das immer größer werdende Angebot kuratieren. Klar, ohne Anlässe wie Feiern, Reisen und berufliche Events steht der wichtigste Motor für die Anschaffung von Analogmode still. Das Leben im Netz geht aber trotzdem weiter - und mit dem Digital-Outfit lässt sich dort nicht nur Zeit überbrücken, bis alles wieder beim Alten ist, sondern auch unterhaltsamer Content kreieren. Weshalb immer mehr alte Hasen mitspielen wollen: Buffalo lancierte kürzlich eine in Flammen stehende Cyber-Version seines Plateaustiefels.
Mode für Zoom-Meetings? "Es wird passieren"
Für die Pioniere der digitalen Mode hat der plötzliche Boom selbstverständlich nichts mit Spielerei zu tun. Ihr Grundtenor: Die Pandemie habe nur beschleunigt, was ohnehin passieren wird. Wenn menschliche Identitäten immer mehr im virtuellen Raum stattfinden, ist es logisch, dass dort auch die passende Kleidung eine immer größere Rolle spielt. Bewegtbilder sind schon möglich. Mode für Zoom-Meetings? "Noch ein weiter Weg, aber es wird passieren", sagt Kerry Murphy von The Fabricant. Sicherlich kommt das Angebot; ob es angenommen wird, ist eine andere Frage. Denn die Wahrheit ist, dass Mode auch immer ein haptisches Erlebnis ist, und das kann im digitalen Raum nie einen Ersatz finden.
Der Vorteil von Bits-und-Bytes-Textilien soll letztlich aber nicht allein in der kreativen Ausarbeitungsmöglichkeit des digitalen Ichs liegen. Die Modeindustrie soll durch sie auch umweltfreundlich werden. Die nachhaltigste Kleidung sei die, die gar nicht erst produziert wird, heißt es in diesem Zusammenhang gern. Niemand scheint jedoch bisher berechnet zu haben, wie viele Ressourcen für das Programmieren eines digitalen Kleidungsstücks eigentlich so draufgehen. So viel zu dem Thema.
Eine gute Sache haben die NFT-Sneaker von Rtfkt aber am Ende doch. Jeder, der sie gekauft hat, bekommt noch in diesem Monat eine Version zum Anziehen nach Hause geschickt, ganz echt. Für die Produktion wurden extra zwei ehemalige Mitarbeiter des 1825 gegründeten Schuhmachers Clarks eingestellt. "Wir glauben, dass die emotionale Bindung zu physischen Objekten immer noch wichtig ist und dass sie die zu unseren Designs sogar noch verstärken kann", sagt Benoit Pagotto von Rtfkt. Das Beste aus zwei Welten. Es könnte das Modell für die Zukunft sein.