Süddeutsche Zeitung

Mode:Deutschland einig Schlabberland

Lesezeit: 7 min

Hauptsache, bequem: In Fußgängerzonen und Büros sieht man immer mehr Menschen, denen völlig egal ist, was sie anhaben. Was verrät das über uns selbst?

Von Tanja Rest

Müsste man rückblickend ein Ereignis identifizieren, das symbolisch für das Ende der alten Kleiderordnung stehen könnte, so würde man wahrscheinlich die Ponader-Episode nennen. Mai 2012, in der Talkshow von Günther Jauch prallten zwei Stilbegriffe aufeinander: Da war auf der einen Seite der Moderator in Anzug und Krawatte, ein Paar frisch gewichster Budapester an den Füßen. Und da war auf der anderen Seite Johannes Ponader, neuer Chef der Piratenpartei. Er trug zur ausgebeulten Jeans ein apfelsinenfarbenes Hemd, darüber eine formlose Strickjacke und um den Hals Knitterschal; seine Barfüße steckten in Trekkingsandalen. Ponader sah aus, als fühle er sich bei Jauch sauwohl.

In einer Art letztem Aufbäumen raffte die alte, gebügelte und gescheitelte Bundesrepublik noch einmal alle Empörung zusammen, derer sie habhaft werden konnte. Die Welt watschte den "Jesus-Freak" ab, der Münchner Merkur tadelte den "Parteimanager ohne Socken", die Bild-Zeitung stieg tief ins Papierarchiv hinab und kam mit dem Wort "Lümmel!" wieder heraus. Und wirklich gab es unter den Bürgern dieses Landes ja einmal eine stillschweigende Verabredung, gewisse textile Standards nicht zu unterschreiten, sobald sie sich aus dem Bereich des Privaten hinausbegaben in die Öffentlichkeit. Nur war das Abkommen zu diesem Zeitpunkt schon längst aufgeweicht. Denn wie sah Ponader tatsächlich aus? Er sah aus wie die Mehrheit der Leute draußen auf der Straße.

Nun, die Lage ist seither nicht besser geworden.

Juli 2018, eine Stunde auf der Münchner Leopoldstraße. Früher Abend, 22 Grad. Die Menschen sind in den unterschiedlichsten Lebensumständen unterwegs, vom Büro nach Hause, beim späten Shoppen oder schon in die Bars und Restaurants. Der Standort ist wohlwollend gewählt, da a) nicht Berlin und b) Schwabing, mit seiner Tradition des Schaulaufens. Man hat sich dennoch darauf eingestellt, dass die Lage ernst sein würde. Die Wahrheit ist aber, sie ist hoffnungslos.

Neben den Turnschuh-, Flipflop- und Segeltuchschläppchenträgern liegt die Quote der Lederbeschuhten bei unter 30 Prozent. Bei den Hosen sind neben schlecht sitzenden, weil fast durch die Bank zu engen Jeans vor allem Cargo-Shorts, Track Pants, Dreiviertelhosen mit Tunnelzug und Leggings unterwegs, die man früher im Bett und vielleicht noch zum Bauch-Beine-Po-Kurs angezogen hätte; insgesamt Stretch und Elastan, wohin man blickt. Die Oberteile: T-Shirts, Tank Tops, Hoodies. In erstaunlichen Farben und Mustern und so heillos verzogen, dass auch Bügeln nicht mehr helfen würde (davon abgesehen, dass offenbar keiner mehr bügelt). Von gerade mal 19 Anzügen sitzen vier, über Passform und Qualität der Hemden legen wir den Mantel des Schweigens.

Das Verrückte ist: Jeder, der sich morgens beim Anziehen ein klein wenig Mühe gegeben hat, sticht aus der daherlotternden Masse mühelos heraus. Eine hübsche Brosche, eine liebevoll ausgewählte Bluse, ein ordentlich geschnittenes Sakko oder ein Rock mit interessantem Faltenwurf - mehr braucht es dafür nicht. Ansonsten ist festzuhalten, dass der Stoff im Sommer 2018 sich entweder um den Körper der Deutschen herumdehnt oder ihn zeltartig umflattert und dass sich zwischen dem Körper und der Straße Hartschaumstoffpolster befinden.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Gute Kleidung sollte unter anderem natürlich auch bequem sein. Man sollte in ihr atmen, sich bewegen, idealerweise Fahrrad fahren können. Bequem aber scheint alles zu sein, was ein Großteil der Menschen noch von ihrer Kleidung erwartet. Sie muss nicht mehr schön sein, geschweige denn elegant. Sie wird auch nicht geliebt, nicht mal geachtet. Sie soll schon gar nichts mehr ausdrücken, keine Lebensfreude, keine Wut, keine Selbstachtung, keinen Witz, keine Rebellion. Sie soll den Körper bedecken und Grundfunktionen erfüllen, fertig, aus. Wie ein Rührgerät, von dem man lediglich erwartet, dass es den Marmorkuchenteig durchknetet, bevor man es wieder in den Schrank räumt. Obwohl nicht auszuschließen ist, dass sich die Deutschen bei der Wahl ihres Rührgerätes mehr Zeit nehmen als beim Kauf eines kompletten Outfits.

Modebewusste Männer sind nicht gefragt

Differenziert man zwischen den Geschlechtern, so haben sich die Männer in diesem wurstigen Zustand des "Alles kann, nichts muss" noch behaglicher eingerichtet als die Frauen. Allerdings mit deren ausdrücklicher Billigung. "Extrem modebewusste Männer finde ich sehr attraktiv": Dieser Aussage mochte bei einer Parship-Umfrage nur ein Prozent der deutschen Frauen zustimmen. Jede Dritte fand, "das Modebewusstsein eines Mannes sollte sich sehr in Grenzen halten". Die bevorzugte Kombi für Ihn: T-Shirt, Jeans, Turnschuhe. Passform - weitgehend egal.

Der größte Witz überhaupt ist es, diesen Look "sportlich" zu nennen; er ist in seiner Passivität nicht mal das. Dabei heißt es seit Jahren, wir lebten in einer Ära des voranschreitenden Körperfetischismus. Hat man nicht selbst schon ätzende Texte darüber geschrieben, dass alle wie verrückt Diät machen, Bodytoning-Kurse belegen und sonst wie an ihren Körpern herumbasteln, um auf Instagram gut auszusehen? Auf der Straße nichts davon. Was man stattdessen sieht, ist eine Art Körpervergessenheit. In den Bequemkleidern stecken vergessene Körper, die allenfalls Grundfunktionen erfüllen, essen, trinken, laufen, sitzen, schlafen, sich fortpflanzen, darüber hinaus aber gleichgültig sind. Über einen Körper, der nichts wert ist und also nicht inszeniert werden will, kann man aber natürlich auch ein ausgeleiertes T-Shirt und eine Cargohose drüberhängen, und gut ist. Hauptsache, nichts zwickt.

Barbara Vinken nennt das einen "aggressiven Sprechakt". Man trifft sie im Hofgarten zum Lunch. Vinken, 58, ist Professorin für Literaturwissenschaften und eine der ganz wenigen, die in Deutschland erhellend über Mode reden können; ihr Buch "Angezogen. Das Geheimnis der Mode" war 2014 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Vinken also nennt es einen aggressiven Sprechakt, "wenn Kleidung nur noch sagt, ich bin funktional und bequem, und der ganze Rest ist mir egal" - aggressiv insofern, als der Träger "die Gegenwart der anderen und den Raum der Öffentlichkeit leugnet".

Was heute Streetwear heißt, führt die Autorin zurück auf das revoltierende Bürgertum im 18. und 19. Jahrhundert, das die Aristokratie in ihren gedrechselten Roben als weibisch und lächerlich empfand. "Der bürgerliche Mann", sagt Vinken, "war ein Geistesmensch, der in seinen Kleidern zeigte, dass er auf Kleidung keinen Wert legte. Weil er ja Wichtigeres im Kopf hatte." Weshalb das, was man heute in der Fußgängerzone sehe, die Eitelkeit schlechthin sei, wenn auch gut kaschiert. "Warum sollten sich die Leute schlecht anziehen, wenn sie sich auch gut anziehen könnten? Das ist doch strohdumm eigentlich, verschwendete Zeit! Was sie damit sagen, bewusst oder unbewusst, ist: Ich kann mir lässig leisten, auf alles Äußere zu verzichten."

Barbara Vinken trägt an diesem ganz normalen Dienstagmittag, der sie gleich wieder zurück in die Universität führen wird, einen Vintage-Pullover von Jil Sander, eine Seidenhose mit Blumenmuster von Dolce & Gabbana, Sandaletten von Balenciaga sowie zwei Handtaschen, eine von Marni und eine von Prada. Was bitteschön nicht bedeuten soll, guter Stil koste zwangsläufig viel Geld. Tatsächlich war es niemals leichter als heute, sich für wenig Geld gut anzuziehen; tatsächlich kauft der durchschnittliche Westeuropäer heute 60 Prozent mehr Kleidung als noch vor 15 Jahren. Barbara Vinken hat vielmehr dem Bedürfnis nachgegeben, sich in ihrer Kleidung auszudrücken. Das ist mehr als Gesehen-werden-Wollen. Das ist Kommunikation. "Es gibt so etwas wie Frieden oder Glück oder einen Flirt im öffentlichen Raum", sagt sie. "Ich ziehe Kleider besonders gerne an, bei denen ich merke, dass die Leute auf der Straße einen anlächeln. Dann freue ich mich und denke: Das Kleid oder der Hut ist gut."

Bequem allein kommuniziert nicht. Es teilt nur mit: Ich bin mir selbst genug, und das ist auf bedrückende Weise lieblos, gerade auch den anderen gegenüber. Bequem unterscheidet auch nicht mehr zwischen Anlässen, wie überhaupt die Sphäre des Privaten in alle möglichen Lebensbereiche hineinwuchert, in denen sie früher nichts zu suchen hatte.

"Viele Leute glauben, dass die Mode de facto tot ist"

Blättert man alte Benimmbücher durch, kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, wie viele unterschiedliche Anlässe es einmal gab, die jeder für sich ausstaffiert werden mussten, wobei zwischen privat und formell strikt getrennt wurde. "Das goldene Buch des Anstands", 1974 erschienen, unterscheidet etwa Arbeitsplatz, Alltag, Einladungen und Besuche, Fünf-Uhr-Tee, Cocktail, Sport, Reise und Wandern, und da sind die festlichen Anlässe noch gar nicht dabei. Legere Kleidung? Nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen! "Wenn Sie sehr schlank sind, dürfen Sie vormittags getrost eine freche enge lange Hose tragen - natürlich mit flachen Schuhen und möglichst nicht im Stadtzentrum." ("Etikette neu", 1956)

Während man sich innerlich bekreuzigt, dass diese Zeiten vorüber sind, so muss man doch auch feststellen, dass die Abwesenheit von Verboten nicht nur den Bequem-Look hervorgebracht hat, sondern dass Bequem der Einheitslook geworden ist zu nahezu allen Anlässen, mit den einzigen Ausnahmen Opernbesuch und Hochzeitseinladung sowie Veranstaltungen mit explizitem Dresscode, welcher über "Smart Casual" allerdings selten hinausgeht. Wer macht sich schon noch die Mühe, sich für ein festliches Abendessen elegant anzukleiden?

In der Arbeitswelt ist die Anzugpflicht auch für die oberen Etagen gefallen, und auf dem Weg ins Büro kann man manchmal nur rätseln: Kommt die Kollegin aus der Buchhaltung direkt von der Yogamatte? Ist der Abteilungsleiter IT in die Arbeit gewandert, oder warum genau trägt er Funktionshose und Teva-Sandalen zum Kurzarmhemd? Es sind Fragen, die man sich am frühen Morgen eigentlich nicht stellen möchte. Irgendwie passend, dass die Zahl der Home-Office-Arbeiter wächst, die dann endgültig in der Komfortwäsche an den Rechner schlurfen können, in der sie eben noch im Bett lagen.

Und was sagt die Mode dazu? "Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren", konstatierte einst Karl Lagerfeld. Und dass er niemals Denim verarbeiten werde. Inzwischen macht er bei Chanel selbst Jogginghosen und Jeansteile und Sneakers, wie alle anderen auch. Der kommerzielle Erfolg von Balenciaga: fußt auf den Turnschuhmodellen Triple S und Speed. Der Sportausrüster Adidas: Ist zum ersten Mal in die Top Ten der heißesten Teenager-Marken aufgerückt (auf Platz eins steht Nike). Stars in Proll-Klamotten: Werden von vogue.com zu Stylehelden hochgejubelt. Rick Owens entwirft für Birkenstock, Demna Gvasalia für Crocs, und Virgil Abloh, dessen Streetwear-Label Off White vor wenigen Jahren noch so Anti-Fashion war, dass es in Paris nur im Rahmenprogramm gezeigt werden durfte, hat gerade seine erste Kollektion für Louis Vuitton vorgeführt. Die eigentlich fein gemachten Sachen kommen bei der Masse dann wieder als Mischung aus Stretch und Schlabber an, diesmal aber mit Billigung von ganz oben. "Der Dandy hat ausgedient", titelte soeben die New York Times, "wir treten ein in das Zeitalter des Hässlichen." Das Hässliche ist gerade ein Milliardenmarkt.

Offen bleibt wie immer, wie es weitergehen wird. "Viele Leute glauben, dass die Mode de facto tot ist", sagt Barbara Vinken. "Dem kann ich nicht zustimmen, ich glaube vielmehr, dass wir auf eine neue Extravaganz zusteuern - sehen Sie nur mal dort drüben!" Da schlendert eine Frau durch den Hofgarten in einem beige, steif vom Körper abstehenden Mantel. Er ist über und über mit schillernden Zierfischen bedruckt. Die Bequemträger würden über ein solch expressives Kleidungsstatement wahrscheinlich in bräsigster Selbstgerechtigkeit die Nase rümpfen - eitel und oberflächlich! Die Wahrheit ist aber: Mode oberflächlich zu finden, war schon immer exakt so oberflächlich, wie sie zu ernst zu nehmen.

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Quelle:
SZ vom 07.07.2018
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