Süddeutsche Zeitung

Ladies & Gentlemen:Platz da, hier kommt die Angelweste!

Bisher waren sie eher ein Rentner-Beststeller, jetzt erobern die Utensilien-Westen auch den Laufsteg.

Von Julia Werner und Max Scharnigg

Für Sie: Ein echtes Träger-Kleid

Wenn sich die Gleichberechtigung endlich auf allen Gebieten durchsetzen soll, muss das leider auch für die Details gelten. Zum Beispiel für den ewigen Mangel an Hosen- und Rocktaschen, dank dessen man als Frau seinem männlichen Begleiter im Laufe eines Abends ja gerne immer allerhand - von Schlüsseln über verschmähte Gebäckstücke bis hin zu Garderobenmarken - zum schnellen Einstecken überlässt.

Schließlich, er hat ja an jedem Teil seiner Abendgarderobe meistens mehrere Taschen, während die Damen in Kleid und Clutch so gut wie nichts unterbringen. Aber die moderne Frau befördert in Zukunft ihr Kleinzeug vermutlich selbst, seufz.

Ganz in diesem Sinne hat die radikale Newcomerin Marine Serre mit dieser eindrucksvollen Kreation jedenfalls deutlich gemacht, dass Frauen durchaus Stauraum tragen können, ohne dass es irgendwie unelegant wirkt. Das hier aufgebotene Taschenensemble sagt sehr deutlich: Platz da, hier kommt eine stabile Einheit aus Frau und Fracht! Gut, ein bisschen militaristisch wirkt das Outfit schon, aber mit so einer angedeuteten Kampfmontur kann man ja durchaus auch unterstreichen, dass man nicht mehr gewillt ist, sich irgendwas gefallen zu lassen.

Und wenn jemand vor dem martialischen Look wirklich zurückschreckt, kann man ihm zur Beruhigung von der friedlichen Upcycling-Strategie von Marine Serre erzählen, die sich für ihre Entwürfe oft bei ausrangierten Textilien bedient. Schwerter zu Pflugscharen hieß es früher. Heute dann also: Kampfwesten zu Abendkleidern!

Von Julia Werner

Man muss feststellen: Kein anderes Kleidungsstück steht derart in der Gunst rüstiger Senioren wie die Safari- oder Angelweste. Wenn Reisebusgruppen Richtung Verona oder "Drei Tage Pusztazauber" am Autobahnrasthof ausschwärmen, liegt bei den Herren die Khakiwesten-Quote jedenfalls bei fast hundert Prozent.

Das ist schon deswegen seltsam, weil die einzige Daseinsberechtigung dieses Kleidungsstücks darin besteht, zwei Dutzend verschiedene Kleinigkeiten getrennt voneinander aufzubewahren. Fotografen und Angler nutzen das als tragbare Werkzeugkiste. Die Westen der deutschen Rentner sind aber immer leer! Allenfalls eine Lesebrille verbirgt sich in einer der 29 Taschen und bis die dann lokalisiert und herausgefummelt ist - total unpraktisch.

Die Funktion also wird meist vernachlässigt, aber was macht dann den Reiz der Angelweste aus? Ist es der Anstrich von Abenteuer und Safari? Oder der irgendwie fachkundige Look, dank dessen man anderen Reisenden ungefragt Tipps zum richtigen Reifendruck geben kann? Nun, zumindest modelliert die Utensilienweste ihrem Träger breite Schultern, wie man hier auf dem Laufsteg von Benetton sieht.

Designerlegende Jean Charles de Castelbajac versucht ja gerade, die angeschlagene Marke wieder etwas aufzufrischen und zeigte eine vergleichsweise avantgardistische Kollektion. Aber ob nun ausgerechnet die Seniorenweste das Image wieder aufpoliert? Vermutlich schon, zumindest hat die Mode in den vergangenen Jahren aus genau solchen Antithesen ihr Kapital geschlagen.

Von Max Scharnigg

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SZ vom 23.02.2019/eca
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