Mode:Berlin, Hauptstadt der Brillen

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In der Werkstatt des Brillenlabels Mykita in Berlin wird erst die Grundform aus dünnen Stahlplatten gestanzt und dann gekröpft, genast, gelascht, getwistet und gemuschelt. (Foto: MYKITA)

Die vielen in Berlin gegründeten Labels machen die Hauptstadt zum globalen Zentrum für Brillendesign. Das wissen auch Yoko Ono, Lady Gaga und Bill Gates zu schätzen.

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Nur stecken, nicht schrauben. Das war die Ansage, als sich im wiedervereinten Berlin 1996 zwei Designabsolventen der Universität der Künste und ein in Sachen Promotion ausgebuffter Kulturpädagoge zusammentaten, um gemeinsam ein neues, in der Stadt entworfenes und produziertes Brillengestell zu verkaufen. Es war die Zeit der Love Parade und der mal hier, mal dort in Industrieruinen temporär loswummernden Technoclubs, man trug Umhängetaschen aus wiederverwendeter Lkw-Plane und fand auch sonst, dass billige, alltägliche Materialien, verwendet in findig-flexiblen Konstellationen, zur ästhetischen Signatur der Hauptstadt werden könnten, die sich scheinbar auf ewig im Umbruch befand.

Genau dazu passte das Modell "Jack" der Brillenmarke ic! berlin, gegründet von Harald Gottschling und Philipp Haffmans (den beiden Design-Studenten) und Ralph Anderl (dem kulturpädagogisch geschulten PR-Schamanen). Ihr 1996 entwickelter Rahmen war gestanzt aus dünnem Blech und fixiert ganz ohne Schrauben, die Scharniere waren nur raffiniert ineinandergesteckt. Jack wog 20 Gramm und sah aus, als würde ein giftgelbes Paar Insektenaugen von Lufthansa-Kuchengabeln auf der Nase gehalten. Die Brille wurde belächelt - und hat doch den Grundstein für das gelegt, was heute die Brillenstadt Berlin ist.

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Brillenstadt Berlin? Ganz genau. Während immer noch reflexartig gefragt wird, wann aus Berlin denn endlich eine richtige Modestadt wird, und während das Lamento darüber, dass die Berliner Fashion Week im internationalen Vergleich kaum mehr ist als ein trauriger Witz, scheinbar nie verstummen will, lässt sich nicht häufig genug betonen, dass Berlin längst eine weltweit impulsgebende Modestadt ist. Nur eben nicht auf dem textilen Feld, sondern auf dem der Optimetrie.

Die in Berlin gegründeten kleinen bis mittelständischen Brillenlabels machen die Stadt längst zur "international capital of independent eyewear brands", zum globalen Zentrum für unabhängiges Brillendesign. Zwar mögen Marken und Manufakturen wie Mykita, ic! berlin, Kuboraum oder Lunettes zusammengerechnet auf dem weltweiten Brillenmarkt (Gesamtvolumen: 90 Milliarden Dollar) noch nicht groß ins Gewicht fallen. Aber sie befinden sich kontinuierlich im Aufschwung, und ihr Einfluss lässt sich kaum überschätzen.

Lady Gaga, Yoko Ono, Daniel Craig, Rihanna, Elton John: Wenn etwa in den Mykita-Werkstätten, untergebracht im denkmalgeschützten Pelikan-Haus in Kreuzberg, jedes Mal die Champagnerkorken knallen würden, wenn mal wieder ein internationaler Star werbewirksam ein Modell der Marke trägt, dann kämen die 290 Mitarbeiter kaum mehr zum Arbeiten.

Goldschmiede, Zahntechniker und Juweliere fertigen die Brillenrahmen

Mykita ist inzwischen das größte Berliner Brillenunternehmen mit einem, laut dem Wirtschaftsmagazin brandeins, Umsatz von 30 Millionen Euro. Die zwischen reduzierter Hipness und eleganter Zeitlosigkeit vermittelnden Rahmen aus Edelstahl, Acetat oder dem 3-D-gedruckten Material Mylon werden in 13 eigenen Läden verkauft, in Paris, Tokio und Los Angeles, sowie über ein Vertriebsnetz in mehr als 80 Ländern.

Im Mykita-Haus fertigen Goldschmiede, Zahntechniker und Juweliere die Rahmen. In der Werkstatt für die Edelstahlmodelle wird erst die Grundform aus dünnen Stahlplatten gestanzt und dann - in 80 Arbeitsschritten in teils selbsterfundener Mykita-Terminologie - gekröpft, genast, gelascht, getwistet und gemuschelt. Rund tausend Rahmen entstehen so am Tag. Die genaue Zahl schreiben sie jeden Abend auf eine Tafel an der Wand.

Mykita bündelt Design, Produktion, Marketing sowie Lagerung und Vertrieb unter einem Dach und produziert neben intern entworfenen Brillen auch Modelle, die aus Kollaborationen mit Modedesignern hervorgehen. Das Unternehmen macht sich zunutze, dass Modemarken, deren Expertise naturgemäß eher im Entwerfen und Produzieren von Kleidung liegt, das Lizenzgeschäft mit optischen Brillen und Sonnenbrillen gern an spezialisierte Firmen auslagern. Derzeit kooperiert Mykita mit Bernhard Willhelm, Damir Doma und Maison Margiela.

Der Markt für Brillen aus Berlin scheint noch lange nicht gesättigt zu sein

Hier wie dort steckt im Kern aber immer das schraubenlose Mykita-Spiralgelenk, das ein wenig graziler aussieht als das schraubenlose Blechklappgelenk von ic! Berlin, das de facto aber von denselben Designern entwickelt wurde. Denn zu den Mykita-Gründern gehörten 2003 neben Moritz Krüger auch Harald Gottschling und Philipp Haffmans, jene beiden ic!-Berlin-Gründer, die sich damals gerade von ihrem Partner Ralph Anderl getrennt hatten.

Inzwischen sind beide auch bei Mykita wieder ausgestiegen - was ein bisschen nach wildem Berliner Start-up-Karussell aussehen mag, vom verbliebenen Mykita-Kreativdirektor Moritz Krüger aber unter dem Stichwort "Zukunft organisieren" als normale, organische Entwicklung beschrieben wird: "Meine neuen Partner verstehen, dass es darum geht, das Potenzial, das in unseren Mitarbeitern und der Firma steckt, zu heben, und aus unserer starken Kultur heraus zu wachsen." Was seine früheren Partner jetzt machen, weiß er nicht. Ob sie eine neue, ihre dritte Brillenmarke gründen?

Wundern würde es nicht. Denn der Markt für Brillen aus Berlin scheint noch lange nicht gesättigt zu sein, das zeigen die in den vergangenen Jahren neu hinzugekommenen Marken. In der Torstraße in Mitte etwa sitzt Lunettes Kollektion, das Label von Uta Geyer. Sie fing 2006 mit einem exzellent sortierten Shop für Vintage-Designerbrillen an und erarbeitete sich schnell internationales Renommee. Inzwischen designt sie auch eigene Modelle und kooperiert, wie Mykita, mit Modedesignern - gerade etwa mit dem Antwerpener Label Capara. Die gemeinsam entwickelte Sonnenbrille "Freefall" ist ein Knaller: Das Glas ist nicht fixiert, geklemmt, geklebt oder geschraubt, sondern - man möchte fast sagen: typisch Berlinerisch - jederzeit abnehmbar, weil nur mit quietschig buntem Gummiband angebunden.

Für den größten internationalen Buzz sorgt derzeit aber Kuboraum. Der amerikanische Basketball-Star LeBron James wurde kürzlich mit einer Kuboraum-Sonnenbrille gesichtet, und Oprah Winfrey, die Queen des amerikanischen Talk-Fernsehens, trägt ebenfalls gerade einen wulstigen Kuboraum-Rahmen aus Acetat, etwa kürzlich auf dem Cover des Hollywood Reporter.

"Kuboraum ist für Menschen, die bereit sind - bereit für ein Objekt mit unorganischem Sex-Appeal, das sich aber organisch ins Gesicht fügt", sagen die Kuboraum-Macher Livio Graziottin und Sergio Eusebi, wenn man sie in ihrem komplett schwarz getünchten Showroom in Kreuzberg besucht. Ihre Spezialität, per Hand mit Flamme angeschmortes Acetat, könnte man etwas morbide finden, auch wird sich nicht jeder davon angesprochen fühlen, dass man bei Kuboraum stolz darauf ist, die derzeit schwersten Rahmen zu produzieren.

Das Label wird in 49 Ländern vertrieben, wendet sich aber bewusst nicht an die breite Masse. Die beiden Gründer sprechen wie Philosophen übers Brillentragen, für sie ist es fast ein magisches Ritual: Anfangs müsse man vielleicht etwas Mut aufbringen, anschließend werde man aber doppelt und dreifach belohnt - mit Selbstbewusstsein und natürlich Aufmerksamkeit.

Das neueste Kuboraum-Modell ist preisgekrönt

Das neueste Kuboraum-Modell "Mask E3" bringt den Ansatz auf den Punkt: Es sieht aus wie ein Hybrid aus Laborschutz- und Schweißerbrille, crazy, retrofuturistisch und doch neu. Auf der Silmo Paris, der wichtigsten Brillenmesse, wurde es gerade mit dem "Silmo d'Or", dem Spezialpreis der Jury, ausgezeichnet. Nur eine Frage der Zeit, bis Popstars es tragen werden.

Die Rahmen von Kuboraum und Lunettes Kollektion sind am Gelenk traditionell geschraubt, sprich, sie machen nicht mit bei der 1996 von ic! berlin begründeten Berliner Tradition, einfach nur zu stecken. Sie brauchen dieses Detail allerdings auch gar nicht, um sich auf dem internationalen Brillenmarkt abzuheben. Denn sie heben sich schon ab, weil sie eben in Berlin sitzen und es sich herumgesprochen hat, dass aus dieser Stadt die "cutting edge German spectales" kommen, die cool bis waghalsig designten innovativen deutschen Brillen.

Aus dem Lookbook MYKITA MYLON (Foto: Ester Grass Vergara/MYKITA)

Parallel dazu wird der Steckgelenk-Look bei CEOs und Politikern immer beliebter. Bei Menschen also, die traditionell Neuerungen im Gesicht skeptisch gegenüberstehen und für ihre Korrekturbrillen am liebsten zu völlig nichtssagenden Modellen greifen. Sie scheinen inzwischen etwas vom schraubenlosen Berlin und dem Mythos der coolen Flexibilität abhaben zu wollen. Bill Gates zum Beispiel trägt Mykita. Und Politiker, von denen man es nicht erwartet hätte, tragen ic! berlin.

Der schwarze Titanrahmen von Heiko Maas war eine dreiste Kopie

Beziehungsweise: Wenn man genau hinschaut, war der schwarze Titanrahmen, den Bundesjustizminister Heiko Maas bis ins vergangene Jahr trug, eben doch nicht von ic! berlin, sondern eine recht dreiste Kopie der Saarbrücker Brillenmanufaktur Meyer - außen mit dem typischen Dreizackbügel, innen mit Bolzen. Das Copyright schützt Brillendesigner vor solchen Klonen nicht, solange kein patentiertes Konstruktionsprinzip (wie das schrauben-lose Gelenk) übernommen wird.

Auch der Rahmen, den Unionsfraktionschef Volker Kauder im vergangenen Jahr trug, mit seiner dreizackigen Gabelstruktur, sah nach ic! berlin aus. Wenn man hineinzoomte, entpuppte er sich ebenfalls als geschraubtes Fake, und zwar von jener Marke, mit der sich immer noch am besten maximale Mode-Indifferenz beweisen lässt: Marc O'Polo.

Bei Mykita ärgert man sich nicht mehr über Kopisten

Dass Politiker äußerlich mit ihren Gestellen gerne den Eindruck des Flexiblen und mal eben locker Zusammengesteckten erwecken wollen, während sie innendrin dann doch herkömmlich, oder eben: konservativ gebaut sind - könnte man daraus etwa ein Psychogramm stricken?

Jedenfalls ist man bei ic! berlin und Mykita, die die Berliner Brillenwirtschaft vorangetrieben und Labels wie Kuboraum oder Lunettes gewissermaßen den Boden bereitet haben, viel zu relaxt, um sich über das geschraubte Nutznießertum am Mythos Berlin aufzuregen. Moritz Krüger von Mykita etwa erzählt, anfangs habe man zwar einige Male versucht, gerichtlich gegen Kopisten vorzugehen - erfolglos. "Seitdem ärgern wir uns über so etwas nicht mehr, sondern schauen, dass wir uns auf uns selber konzentrieren und unsere eigene Sprache weiterentwickeln. Wir haben ja ohnehin ständig so viel Spaß und neue Ideen, dass wir uns im Grunde selber bremsen müssen."

Mit anderen Worten: Kopiert zu werden, ist auch nur ein Kompliment. Eine irgendwie sehr berlinerische Antwort.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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