Süddeutsche Zeitung

Modetrend:Extrem beschnittenes Unterhemd

Im vergangenen Sommer war das bauchfreie Top für Männer noch ein Witz. Dieses Jahr ist es überall. Über einen textilen Befreiungsschlag.

Von Jan Stremmel

Vor knapp einem Jahr löste ein großer britischer Mode-Versandhändler einen kleinen Skandal aus. Er stellte ein neues Kleidungsstück online, es nannt sich "Extreme cropped vest", auf deutsch "extrem beschnittenes Unterhemd": Ein weißes Achselshirt, ähnlich dem guten alten Feinripp-Klassiker - mit dem kleinen Unterschied, dass es unterhalb des Brustkorbs endete. Und von einem männlichen Model getragen wurde. Es tauchte im Onlineshop in der Kategorie "Herrenmode" auf. Bauchfrei für Männer.

Für ein so schmales Stück Stoff war der Aufschrei relativ breit. Auf Twitter verbreiten sich auch ein Jahr später noch Fotos davon mit kopfschüttelnden Männer-Kommentaren wie: "Ich gebe auf". Diverse Herrenblogs widmeten dem Textil, das gerade mal zehn britische Pfund kostete, eigene Texte, meist in ebenso verständnislosem Ton verfasst: Das Top "kommt in Small, Medium und Large", schrieb etwa Ladbible.com, "aber in Wahrheit kommt es nur in einer Größe: zu klein."

Die größten Modetrends sind erst einmal der größten Ablehnung begegnet

Die Ablehnung speist sich dabei aus den immer gleichen Argumenten: Bauchfreie Shirts seien mädchenhaft. Sie erforderten einen extrem trainierten Körper und seien total überteuert, schließlich könne man mit einer Schere auch selbst jedes Unterhemd in ein Crop Top verwandeln. Das Feedback auf das innovative Kleidungsstück klang also insgesamt nicht so, als sei dem bauchfreien Männershirt eine große Zukunft beschieden.

Aber große Modetrends starten oft mit gehöriger Ablehnung im Mainstream - man denke an Mom Jeans, Ugly Sneakers oder Bauchtaschen. Vermutlich adelt sogar erst der Spott der prüden Mehrheit einen neuen Look als wirklich visionär. Jedenfalls hat Asos, jener britische Mode-Versandhändler, diesen Sommer nicht mehr nur eins, sondern gleich ein gutes Dutzend verschiedener Crop Tops in seinem Männersortiment. Einige liegen knatscheng an und enden knapp über dem Bauchnabel. Andere fallen von der Brust abwärts in weiten Fransen bis zur Hüfte. Einige kommen in durchsichtigem Netzstoff oder Neonfarben-Synthetik.

Und auch außerhalb des Webshops ist das Thema überall: Auf Pinterest kuratieren Fashion-Aficionados längst Bildergalerien mit den schönsten Männern im Bauchfrei-Look, darunter American-Football-Profis, der Rapper Kid Cudi, Justin Bieber oder Jaden Smith, der 20-jährige Sohn von Will Smith, der als hochgradig trendsensible Stilikone gilt. Schon klar, richtig breitenwirksam ist das Teil noch immer nicht. Aber unter Hipstern scheint sich das bauchfreie Männer-Top durchzusetzen.

Warum ausgerechnet in diesem Sommer? Das ist gar nicht mal so schwer zu erklären: Das bauchfreie Top vereint in seinen wenigen Quadratzentimern Textil gleich mehrere aktuelle Großtrends. Es ist, erstens, Sportswear und, zweitens, retro: schließlich stammt das bauchfreie Top ursprünglich aus dem Fitnessbereich. Sein Durchbruch hing in den Achtzigern eng mit dem Siegeszug von Aerobic zusammen. Auch Bodybuilder trugen kastenförmige, unten kurz geschnittene Shirts. Einen seiner bislang größten Momente hatte das kurze Männer-Top in "Rocky III", als der Schwergewichts-Champion Apollo Creed mit seinem Schützling Rocky im bauchfreien Shirt trainiert.

Warum sollen eigentlich nur Frauen mit ihren flachen Bäuchen angeben dürfen?

Neben kastenförmig gebauten Männerkörpern setzt der nabelfreie Look aber auch andere Phänotypen gut in Szene: den androgynen Schlaks. Sexsymbole wie Prince, der "Suede"-Sänger Brett Anderson oder der junge Johnny Depp (sensationell bauchfrei in "Nightmare on Elm Street") haben das seit den späten Siebzigern bewiesen. Dass Androgynität gerade modisch mal wieder sehr angesagt ist, kommt dem Männer-Top also ebenfalls zugute. Und dann kommt natürlich noch ein Faktor dazu, ohne den kaum ein Achtziger- und Neunziger-Zitat in der derzeitigen Mode denk- oder tragbar wäre: Ironie. Wie wichtig die ist, um den Bauchfrei-Look als Mann durchzuziehen, haben nicht zuletzt die vielen verständnislosen Twitter-Männer offenkundig gemacht.

Zu deren Verteidigung sei aber auch gesagt, dass das bauchfreie Top nicht direkt auf die gängige Form des Männerkörpers zugeschnitten ist: Es betont die Taille. Seit es in den 1940er-Jahren erstmals für westliche Frauen in Mode kam (in Indien ist ein bauchfreies Top unterm Sari schon seit Jahrhunderten angesagt), kombinierte man es vorzugsweise mit High-Waist-Röcken oder -Hosen. Die freiliegende Körpermitte suggeriert eine Sanduhr, die traditionell eher als weibliche Idealform gilt.

Männer haben sich, historisch gesehen, dem bauchfreien Oberteil dagegen eher über seine Funktionalität genähert. Wenn Football-Spieler heute immer mal wieder ihr Trikot vorn hochkrempeln, ist das tatsächlich kein Zufall, sondern eine Art Tradition: Mitte des vergangenen Jahrhunderts war im American Football das sogenannte "Tear Away Jersey" weit verbreitet, also "Abreiß-Trikot". Es hatte eine Sollbruchstelle auf Bauchhöhe und riss ab, sobald gegnerische Verteidiger einen Stürmer an seinem Trikot festhalten wollten. Weil nach Abpfiff dann häufig die halbe Mannschaft mit freiliegenden Sixpacks auf dem Feld stand, verbot die NFL 1979 Abreißtrikots. Was ein gutes Beispiel dafür ist, dass der männliche öffentlich entblößte Bauch tendenziell als problematisch gilt - erst recht dann, wenn er durchtrainiert und damit potenziell sexuell erregend ist.

Interessanterweise wird dieser Aspekt bei Frauen weit weniger problematisch gesehen. Nachdem Cher, Madonna und Britney Spears den Look über Jahrzehnte beackert haben, regt sich über weibliche Nabelschau längst niemand mehr auf. Insofern kann der Einzug des Crop Tops in die Männermode eigentlich nur begrüßt werden. Warum sollten schließlich nur Frauen mit einem flachen Bauch angeben dürfen (und sich dafür mit Tausenden Sit-ups quälen müssen)? Und ist es nicht, angesichts immer heißer werdender Sommer, auch eine Frage der Bequemlichkeit, ja quasi ein textiler Befreiungsschlag, als Mann endlich öffentlich mit freiem Bauch herumlaufen zu dürfen, ohne gleich als Campingplatz-Proll zu gelten? Schon das älteste bekannte männliche Testimonial für bauchfreie Tops wusste schließlich um deren unschlagbare Gemütlichkeit: Puh der Bär. Im Gegensatz zu ihm, und um die prüden Kritiker nicht komplett in den Wahnsinn zu treiben, kann man ja vorerst noch eine Hose dazu anziehen.

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SZ vom 22.06.2019/eca
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