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Mode:Auf Modelsuche im Burgerladen

Auch in der Modewelt ändert sich das Männerbild. Durchtrainierte Machos werden auf den Laufstegen durch zarte Gestalten ersetzt. Unterwegs mit einer Modelagentin, die ihre Klienten auch bei McDonald's sucht.

Von Jenny Hoch

Ein sonniger Nachmittag in der Kölner Innenstadt. Eva Gödel isst gerade ein Eis, als ein zerzauster junger Mann an ihr vorbeistiefelt. Sie spurtet los, überholt ihn und beobachtet dann, die Hände in die Hüften gestemmt, wie der schlaksige Junge auf sie zukommt. Irritiert, auf diese Weise ins Visier genommen zu werden, verdrückt er sich schnell um die nächste Ecke. Eva Gödel lässt ihn ziehen. Der war es nicht.

Also weiter, zu McDonald's. "Immer eine gute Quelle", sagt die 40-Jährige, während ihre Augen schon am nächsten dürren Kerl hängen bleiben. Der Junge hat Pickel auf der Stirn, versinkt in olivfarbenen Baggypants und nuckelt schüchtern an einem XL-Colabecher - nicht unbedingt der Typ, dem die Mädchen in Scharen verfallen. Doch Eva Gödel spricht ihn an. Es stellt sich heraus, dass er erst 14 ist. Zu jung. Wäre er zwei Jahre älter, würde der Teenager womöglich bald nicht mehr bloß die Kölner Fußgängerzone hinunterlaufen, sondern die Laufstege in Paris, Mailand oder New York.

Denn das ist Eva Gödels Job: Sie ist Modelagentin. Sie findet und vertritt die Männermodels, die High-Fashion-Häuser wie Balenciaga, Prada, Calvin Klein oder Comme des Garçons für ihre Schauen und Kampagnen buchen. Klingt glamourös, aber bis es so weit ist, verbringt die resolute blonde Frau viele unglamouröse Stunden in den Einkaufsmeilen europäischer Städte. Oder dort, wo sich junge Männer in der fragilen Phase zwischen Pubertät und Erwachsensein in Horden aufhalten: auf Game Conventions, Musikfestivals, Straßenfesten. Neulich war sie auf dem Japan-Tag in Düsseldorf. "Es ist ein bisschen wie Pilze suchen", sagt sie und scrollt durch ihre Handyfotos von Jungs in Mangakostümen, "sind das nicht Prachtexemplare?"

Sie treten nicht selbstbewusst auf, sondern stehen oft ein wenig verloren da

Männermodels. Zu Beginn der Nullerjahre waren das ausschließlich Adonisse mit aufgepumpten Oberkörpern, definierten Sixpacks und kantigen Kiefern. Sie entstiegen kraftstrotzend der Cool-Water-Davidoff-Welle oder ließen sich in Machopose, eine Hand im Schritt, in Feinrippunterhosen fotografieren. Dann fingen Designer wie Raf Simons, Hedi Slimane oder Rick Owens an, eine schlanke Silhouette für Männer zu propagieren und Magazine wie Dazed and Confused oder i-D hoben statt schöner auf einmal interessante Models in ihre Fotostrecken. Inzwischen ist davon viel im Mainstream angekommen.

Parallel zur Diskussion über das Ende der Vorherrschaft des weißen Mannes scheint sich seitdem auch in der Modewelt ein anderes Männerbild zu etablieren. Die neuen Models bestechen von Topman bis Gucci durch spitze Schulterblätter, dünne Arme und extraschmale Schultern. Es sind feingliedrige, androgyne Typen aus allen Kulturkreisen, manche haben Adlernasen, einige Segelohren, perfekt sind sie alle nicht. Sie treten auch nicht besonders selbstbewusst auf, sondern wirken eher weich, oft stehen sie mürrisch und ein wenig verloren in aufwendig ausgestatteten Modestrecken und Werbekampagnen herum.

Eva Gödel steht mit ihrer Agentur Tomorrow Is Another Day für diesen modernen Modeltypus. Sie gilt als Pionierin des Street Castings, ihr Gespür für die Trends von der Straße ist legendär. "Eigentlich interessiere ich mich gar nicht für Models", sagt die gebürtige Kölnerin. Einmal habe sie in London einen Mann angesprochen, der ihr eigentlich zu konventionell war. Er war anfangs freundlich, reagierte aber zunehmend verärgert, als klar wurde, dass sie keine Ahnung hatte, wer da vor ihr stand. Es war David Gandy, damals das teuerste und erfolgreichste britische Männermodel, der Hugo-Boss-Mann schlechthin. "Meine Mitarbeiter haben sich schlapp gelacht, dass ich den nicht kenne."

Wonach genau sie sucht, kann sie nur schwer in Worte fassen: "Ich spreche eher diejenigen an, die sich selbst nicht cool finden." Sie mag Jungs mit einer gewissen Unbedarftheit. "Manche sehen aus wie Prinzen, kommen aber aus einem Hartz-IV-Haushalt", erzählt sie, "die ernähren dann die ganze Familie." Man könnte auch sagen, sie sucht moderne Männer, keine Fantasiegestalten. Persönlichkeiten statt Kleiderständer. Interessant sollen sie sein und - vor allem - authentisch rüberkommen. Nur ein Kriterium ist gleich geblieben: "Ein speckiger Bauch geht gar nicht."

Aber werden hier nicht zweifelhafte Schönheitsideale auf die Spitze getrieben? Bisher traf es zwar vor allem die Frauen, aber seitdem Männer körperbewusster sind und die Mode für sie wichtiger geworden ist, unterwerfen auch sie sich häufiger den rigiden Vorgaben der Industrie. Magersucht ist längst keine reine Mädchenkrankheit mehr. In Frankreich wurde deswegen gerade ein Gesetz erlassen, das gefährlich dünne Models von den Laufstegen und aus der Werbung verbannen soll.

Auch Eva Gödels Jungs müssen ab sofort ein Attest vom Arzt vorlegen, das ihnen einen ausgewogenen Body-Mass-Index bescheinigt. "Selbstverständlich lassen wir nur gesunde Models arbeiten", sagt die Agenturchefin, die gerade mit 70 Kandidaten in Paris bei den Pre-Castings für die kommende Saison war, "die Frage ist aber, ob der BMI wirklich so viel aussagt." Männer zwischen 16 und 25 seien oft von Natur aus extrem schlank und können essen, was sie wollen. Wenn nicht, legt sie ihnen dann nahe, eine Diät zu machen? Eva Gödel winkt ab: "Die haben eh nicht die Disziplin, das durchzuhalten." Das Modeln, sagt sie, sei für die meisten sowieso nur eine Weile lang eine Option. "Ich sage meinen Jungs immer: Mode ist ein schnelles Geschäft, es ist eine interessante Erfahrung, aber nichts für immer."

Einer ihrer wichtigsten Kunden ist der amtierende Liebling der Modewelt, der Georgier Demna Gvasalia. Das von ihm mitbegründete Label Vêtements wird für seine kantige Undergroundmode hysterisch gefeiert. Als der Designer im vergangenen Jahr seine erste Männerkollektion für das ikonische Modehaus Balenciaga präsentierte, buchte er - sehr ungewöhnlich für die Branche - alle Models bei Eva Gödel. Seine Vorgabe: Sie sollte exklusiv für ihn außergewöhnliche Jungs finden, die auch als Gang funktionieren. Das Ergebnis war mindestens so spektakulär wie die Kollektion selbst, ein Mix aus Männern jeden Alters und jeder Hautfarbe, wie man ihn zuvor vermutlich noch nie auf einem Pariser Laufsteg gesehen hat. "Ich bin über einen Monat lang herumgereist, um sie alle zu finden," erzählt Eva Gödel, "es sind Halbtunesier darunter, Halbitaliener, Pakistaner, Senegalesen, Finnen, Dänen - alle sehen auf interessante Weise anders aus."

Ist die neue Offenheit nur ein Marketingtrick, um noch mehr Klamotten an noch größere Kundenkreise zu verkaufen? Oder etabliert sich ausgerechnet die Modewelt, sonst nicht gerade für politischen Aktivismus bekannt, als Zugpferd für mehr Diversität, für mehr Sichtbarkeit von Minderheiten? "Natürlich gibt es neue Märkte, zum Beispiel Indien, aber so denke ich nicht. Ich biete das an, was mir gefällt", sagt Eva Gödel, "dahinter steht auch der Wunsch, eine offene Welt ohne ethnische Grenzen zu zeigen, in der jeder so sein darf, wie er ist."

Und noch etwas ist neu: Eva Gödel vermittelt sehr viele Anfänger. Die Designer wollen immer neue Gesichter, entsprechend vergibt sie ihre frisch gehobenen Schätze nur an die angesagten Labels und Fotografen. Diacaria aus dem 18. Arrondissement von Paris ist einer dieser Frischlinge. Der muslimische Junge kam mit seinem Vater zum Casting, der eine traditionelle Djellaba trug, einen knöchellangen Kaftan, und sich geduldig anhörte, in was für eine fremde, schillernde Welt sein minderjähriger Sohn geschickt werden sollte. Zwei Editorials hat der schon geschossen, eines für Arena Homme Plus, eins für das Dust Magazine, welche Shows er in Paris laufen wird, ist noch offen.

Ein Senkrechtstarter ist der Berliner Joel L. Eva Gödel sprach den aparten Jungen, der eine deutsche Mutter, einen Vater aus Trinidad und eine chinesische Großmutter hat, im vergangenen Jahr beim 1.-Mai-Fest in Kreuzberg an. "Ich war mit Freunden unterwegs, als sie mich fragte, ob ich Model werden wollte", erzählt der 18-Jährige am Telefon und klingt noch immer verwundert, "dabei hatte ich damit vorher nie etwas am Hut." Dann ging alles schnell: Einen Monat später lief er in Paris, bald kommt eine internationale Kampagne mit ihm heraus. Auf seinem Instagram-Account sieht man ihn mit Zahnspange - und mit David Beckham und Usher. Darunter der Kommentar: "Okay, jetzt ist er in der h!gh society."

Dass Eva Gödel in der Modebranche erfolgreich ist, war nicht geplant. Ein Auge für Menschen aber hatte sie schon immer. Als Schülerin jobbte sie in einem Kölner Modeladen und machte dort Polaroids von stylishen Kunden, mit denen sie die Wände dekorierte. Als Grafikdesign-Studentin war sie es, die interessante Leute für Foto- und Filmprojekte von befreundeten Künstlern fand, darunter Rosemarie Trockel, für die sie bis heute arbeitet. Für ihre Diplomarbeit bei Bazon Brock designte sie dann ihre erste Agentur. "Es war ein Kunstprojekt über Schönheit", erzählt Eva Gödel, "dass daraus ein Business werden könnte, hätte ich damals nicht für möglich gehalten."

Ihre Affinität zu Kunst und Design zeigt sich heute in den Räumen ihrer Agentur in einem unauffälligen Hinterhaus. Ein Modulschreibtisch der Designergruppe Memphis steht da, ein türkisfarbener Vintage Eames Chair, ein Grcic-Stuhl, dazu Arbeiten von Rosemarie Trockel, Lucy McKenzie, Wolfgang Tillmans - und ein großformatiges Gemälde von Eliza Douglas. Über 300 Männer sind in der Kartei von Tomorrow Is Another Day, auch ein paar Frauen sind darunter, aber es sind wenige. "Ich tue mich leichter, Männer zu finden", sagt Eva Gödel. Anders als viele Kollegen sucht sie kaum in sozialen Netzwerken: "Ich muss sehen, wie sich die Jungs bewegen, was für eine Ausstrahlung sie haben." Meistens beobachtet sie potenzielle Kandidaten eine Weile, bevor sie sie anspricht. Sind sie mit ihren Eltern unterwegs, wendet sie sich direkt an die. Das klappt ganz gut, nur in Italien nicht, da seien die Leute viel misstrauischer.

Eva Gödel achtet streng darauf, dass alles gesetzeskonform abläuft, das finanzielle Risiko trägt sie. Sie bezahlt die Fotos, die Reisen, die Hotels. Und sie hat ein Notfallhandy, auf dem können die Jungs rund um die Uhr anrufen, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. Bis auf einmal hat es noch nie geklingelt, da beschwerte sich ein Newcomer mitten in der Nacht darüber, warum für ihn im Flugzeug kein XL-Sitz gebucht worden sei. "Wir arbeiten nur mit großen Konzernen zusammen, da läuft alles superseriös ab." Potenziell gefährlicher sei es, warnt sie, sich von Hobbyfotografen abschleppen zu lassen, die in ihrer Garage Fotos knipsen wollen.

In der Agentur herrscht Hochbetrieb. Die Setkarten sind zu spät fertig geworden, der Praktikant darf sie nun persönlich nach Paris und London bringen. Eva Gödel schnippelt schnell noch die Zellophantüten dafür zurecht, sie will nicht, dass die Karten dreckig werden. Dann telefoniert sie einem Mitarbeiter hinterher, wischt Kaffeeflecken vom Tisch, sucht nach einer sauberen Hintergrundrolle für ein Instagram-Foto. "Ich bin hier die Ordnungspolizei", ruft sie im Vorbeigehen und grinst. Sie spricht im rasendem Tempo, so, als könne sie dadurch in weniger Zeit mehr erledigen. Sie trägt ein frisch gebügeltes Hemd im Herrenstil und neue Sneakers. Ihren Jungs, erzählt sie, müsse sie oft erst beibringen, die wertvollen Designerteile, die sie auf den Schauen tragen, nicht einfach zerknüllt in die Ecke zu schmeißen.

Überhaupt scheint ihr Job sehr kümmerintensiv zu sein. Sie übt mit den Models in ihrem Büro das Laufen auf dem Catwalk, sie richtet Weckrufe ein, damit sie es morgens pünktlich zum Flieger schaffen, sie geht mit ihnen essen, in Paris immer in das gleiche Couscous-Restaurant, wo sie zusätzlich Pommes bestellt, damit alle satt werden. Und wenn einer jammert, dass er einen Job für 500 Euro machen soll, wo er doch vorher 2000 Euro für ein Defilee kassiert hat, sagt sie zu ihm: "In deinem Alter habe ich mir für sieben Mark 50 pro Stunde die Beine in den Bauch gestanden."

Eva Gödel zuckt mit den Schultern. "So sind die Jungs eben." Sie wirkt nicht genervt, sondern eher stolz darauf, ihren Laden mit so vielen unterschiedlichen Charakteren zusammenzuhalten. Ihre Mutter, erzählt sie zum Abschied, war vor ihrer Pensionierung Lehrerin, inzwischen hilft sie ihrer Tochter in der Buchhaltung aus. "Sie sagt immer zu mir: Mein Job war gar nicht so anders als deiner."

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Quelle:
SZ vom 17.06.2017/jael
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