Mobilität:Hin und weg

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Auch in Corona-Zeiten sind sie schillernde Orte zwischen Fern- und Heimweh: Der Bildband "Bahnhöfe der Welt" feiert die Architektur der Sehnsucht.

Von Gerhard Matzig

Der Begriff "Bahnhof verstehen" könnte schon so altmodisch geworden sein, dass man auch ihn selbst nicht mehr so recht versteht. Zu hören ist die Redewendung jedenfalls nicht sehr oft. Für die Jüngeren also, die sich möglicherweise dahingehend äußern, man möge sie doch bitte nicht abfucken oder sie sonstwie tangieren: Das Sprichwort vom Bahnhof, den man versteht, stammt aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Erfunden wurde das Ganze vermutlich von kriegsmüden Soldaten, die nach kriegerischen Jahren des Elends nur noch eines wollten: nach Hause fahren. Und weil den Beginn und das Ende solcher Fahrten im 20. Jahrhundert, das auch ein Jahrhundert der prosperierenden (Bahn-)Mobilität war, normalerweise Bahnhöfe markierten, antworteten sie auf alle möglichen Fragen mit dem Satz: "Ich verstehe nur Bahnhof."

Übersetzt heißt das: Alles andere interessiert mich nicht oder nur extrem peripher - ich will einfach nur zum Bahnhof und dann ab nach Hause. In der Begrifflichkeit "Bahnhof verstehen" ist daher bis heute schon sprachlich etwas angelegt (abgesehen natürlich vom militaristischen Kontext), was den Ort zum friedfertigen Sehnsuchtsort macht. Wobei der Bahnhof eine bautypologische Metapher ist, die den Weg in zwei verschiedene Richtungen weist. Die Züge fahren in die Bahnhöfe hinein und aus diesen hinaus. Der Bahnhof, ob einfache Provinz-Haltestation oder repräsentativer Hauptbahnhof, ist nicht nur der Ort, von dem aus es nach Hause geht, also ein Ort des Heimwehs; er ist zugleich auch Stätte des Fernwehs - und umschreibt den Raum von Aufbruch, Reise und Abenteuer. Der Bahnhof ist ein Haus, das beides verspricht: das vertraute Eigene und die fremde Fremde. Oder wie Kurt Tucholsky es sagt: "Die Lokomotive atmet. Niemand steigt aus. Niemand steigt ein. Aber hier ist: Aufenthalt."

Der von Martin Weltner konzipierte Bildband "Bahnhöfe der Welt", soeben erschienen bei Geramond (192 Seiten, ca. 200 Abbildungen, 39,99 Euro), ist eine Hommage an diesen seltsam transitorischen, ja paradox erscheinenden Raum des Aufenthalts als eine Hauptimmobilie der Mobilität. Wobei der Bahnhof in pandemischen Zeiten noch einmal aufgeladener erscheint mit Bedeutung und Metaphorik. Zugleich ist es der Ort, von dem wir endlich, endlich wieder in die Welt hinaus wollen, aber es ist auch der Ort, der ein Hauptschauplatz des Pandemischen und der Seuchenangst ist. Pandemien sind ohne die Mobilitätsverheißungen der Moderne kaum vorstellbar. Das Virus teilt mit uns modernen Nomaden die Reisefreudigkeit. Auch das Virus sitzt gern auf gepackten Koffern.

Die Angst beiseitezulassen - und sich auf das garantiert virenfreie Abenteuer des Reisens im Kopf einzulassen: Dazu ist das Buch wie geschaffen. Wer sich durchblättert, kommt immer wieder neu an. Etwa in Bukarest, dessen Kopfbahnhof zwischen 1868 und 1872 errichtet wurde. Fast alle rumänischen Fernzüge beginnen oder enden hier - in Bukarest Nord. Für Ungarn und den Bahnhof "Budapest Keleti pályaudvar" (abgekürzt Keleti pu, zu Deutsch: Ostbahnhof) gilt das ähnlich. Wer sich gegen dessen verschlissenen Neorenaissance-Charme beispielsweise den Münchner Ostbahnhof vergegenwärtigt, ein so trauriges wie dysfunktionales und stadträumlich wie eine Kreissäge sich aufführendes Machwerk der Achtzigerjahre, darf in Tränen ausbrechen. Als Münchner. Zum Glück sind auch die besonders schönen Bahnhöfe von Frankfurt am Main und Leipzig als deutsche Bahnerrungenschaften im Band vertreten. Zusammen übrigens mit dem Bahnhof in Dießen am Ammersee, der zwar winzig ist, aber dafür direkt neben der Anlegestelle für die Ammerseeschiffe liegt. Überhaupt ist es ein Verdienst des Bildbandes, einerseits die ganze Welt zu bereisen, so gelangt man an die Elfenbeinküste, in den Süden Namibias oder nach Madagaskar, man erkundet die Bahnhöfe in Peking, Melbourne oder New York; aber man verweilt dort nicht nur in der Haupthalle des New Yorker Grand Central Terminals, sondern man begegnet auch Provinzstationen in aller Welt.

Wer sich den verlassenen Bahnhof in Garub, Namibia, ansieht, das eingesunkene Dach, die toten Fensterlöcher, ein Baumgerippe, der hat auch mit einem Mal das Lied vom Tod im Ohr. Sergio Leones Meisterwerk fängt mit einem Bahnhof an - und auch wenn es dann sehr bald drei Tote in langen gelben Staubmänteln gibt (ohne gültige Bahnsteigkarte), so ist doch klar: Bahnhöfe, ob klein oder groß, modern oder antiquarisch, imperial eindrucksvoll oder (wie fast alle kleineren Bahnhöfe in Deutschland, die nicht Stuttgart 21 heißen) als Halbruinen vom Wahnsinn DB kündend, Bahnhöfe sind immer mit Emotionen verbunden und schon deshalb als Architekturen auch immer reinstes Kintopp. Hier ist Aufenthalt.

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