Lifestyle:Die Milch hat ihre Unschuld verloren

Malcolm Mcdowell Characters: Alex Film: A Clockwork Orange (UK/USA 1971) Director: Stanley Kubrick 19 December 1971 PUBL

Milch in "Clockwork Orange": optisches Spannungsfeld zwischen kindlicher Unschuld und einem verkorksten Charakter.

(Foto: imago images/Mary Evans)

Von Kleopatra bis "A Clockwork Orange": Das Image-Problem der Milch bringt auch popkulturell einiges durcheinander.

Von Silke Wichert

Dieser Milchporno der Sängerin Fergie grenzte schon 2016 an groben Unfug, aber es wäre doch interessant zu sehen, welche Reaktionen so eine Laktose-Orgie heute auslösen würde. Gemeint ist das Video zum Song "M. I. L. F $", in dem die frühere Sängerin der Black Eyed Peas einen attraktiven Milchmann im Lieferwagen durch eine Kleinstadt voller "M. I. L. F.s" fahren lässt. Bei Fergie steht das jugendfrei für: "Moms I'd like to follow", dazu zählen die Models Alexandra Ambrosio, Chrissy Teigen sowie Kim Kardashian.

Im Weiteren wird an Milchflaschen genippt, Milch in den Ausschnitt gekippt oder darin gebadet. Kim Kardashian duscht halbnackt in einer Milchfontäne. Dass hier Mütter zwischen Kind, Stillen und Karriere gefeiert werden sollten? Kaufte der Sängerin schon damals keiner ab. Eher ging es wohl darum, sexy "Muddies" noch ein bisschen sexier zu inszenieren. Das allgemeine Echo damals: Kipp dir deinen gequirlten, pseudo-feministischen Quark sonst wo hin.

Heute würden die Milf-Mägde vermutlich einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken auslösen, der weniger mit Sexismus als vor allem mit Veganismus und Nachhaltigkeit zu tun hätte. Die Milch erlebt ja, um es vorsichtig zu formulieren, derzeit ein gewisses Imageproblem. Nachdem sie Generationen von Kindern förmlich eingetrichtert wurde, weil sie reich an Kalzium, Eiweiß, Mineralstoffen ist, und die Werbung mit "einer extra Portion" Milch sogar verzuckerte Schokolade verkaufen konnte, steht sie nun bei Teilen der Gesellschaft auf dem Index. Nicht nur könnten Menschen normale Kuhmilch nicht mal gescheit verdauen, heißt es immer häufiger, sie zu trinken sei zudem Tierquälerei und eine Zumutung fürs Klima.

Im Gegenzug ist der Konsum von Ersatzprodukten wie Reis-, Soja-, oder Mandelmilch bekanntlich in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen. Vor allem die Hafermilch der schwedischen Marke Oatly gilt nun als "sexy". Dusch-Orgien von Kardashians damit sind trotzdem vorerst nicht zu erwarten: In New York war die Nachfrage 2018 so groß, dass es zeitweise zu Lieferengpässen mit verzweifelten Hafer-Latte-Trinkern kam. Wehe dem, der das gute Getränk einfach so verschwendet.

Kleopatra badete sogar in Milch, und auch uns versprach die Industrie samtweiche Haut

Aber wenn sich nun die Wahrnehmung von (Kuh-)Milch wandelt, wie verändert das ihre ästhetische Konnotation? Milch war ja nie einfach nur ein Getränk, sondern wie Bier oder Champagner angereichert mit jeder Menge Bedeutung. Schon bei den Griechen stand sie symbolisch für Schöpfung, die Milchstraße soll der Sage nach durch einen Spritzer aus der Brust der Göttin Hera entstanden sein, als sie Herkules stillte. Dann war da das berühmte Schönheitsritual von Kleopatra, die in Milch badete, weshalb weiße Tropfen jahrelang in Zeitlupe in Duschgelrezepturen flogen, die unsere Haut samtweich machen würden. Milch war durch und durch: gut.

Und dann wurde sie in den Neunzigern sogar noch eine Spur sexy. Kate Moss, Naomi Campbell, Heidi Klum oder Christian Bale im Batman-Kostüm - sie alle warben in der legendären "Got Milk"-Werbekampagne mit einem kleinen Milchbart für den Konsum dieses eigentlich so uncoolen Kinderdrinks. Vor ein paar Jahren wurde die Kampagne eingestellt, offenkundig, weil sich die amerikanische Milchwirtschaft das Marketing nicht mehr leisten konnte. Mittlerweile wäre es wahrscheinlich ohnehin schwierig, noch Testimonials für das Produkt zu gewinnen.

Wer heute in einem trendbewussten Coffeeshop auf die Frage, welche Milch man für seinen Kaffee bevorzuge, unbedarft mit "normale" oder gar "Vollmilch" antwortet, wird bisweilen argwöhnisch betrachtet. In Deutschland sank der Konsum im vergangenen Jahr erneut um drei Prozent, Amerikaner trinken im Vergleich 40 Prozent weniger als Mitte der Siebziger. Kuhmilch zu trinken ist auf dem Weg, einen ähnlichen Ächtungsgrad zu erreichen wie Rauchen, Diesel-Fahren oder in Alufolie gewickelte Schulbrote.

Lifestyle: In den Neunzigerjahren wurde Milch dann auch noch sexy: Models und Stars legten sich für diese Werbekampagne einen weißen Bart an.

In den Neunzigerjahren wurde Milch dann auch noch sexy: Models und Stars legten sich für diese Werbekampagne einen weißen Bart an.

(Foto: Imago)

Vor allem im Film bringt ihre veränderte Rolle ein ganzes Zeichensystem ins Wanken. Dort waren es häufig ja gerade nicht die klassischen Milchbubis, die vor der Kamera zu diesem Getränk griffen. James Dean hält sich nach dem Autorennen mit tödlichem Ausgang in "Denn sie wissen nicht, was sie tun", verzweifelt eine kalte Milchflasche an die Schläfe und stürzt dann hastig große Schlucke davon hinunter - Sinnbild dafür, dass wir es hier eigentlich noch mit einem Halbstarken zu tun haben.

Auch die jugendlichen Hauptdarsteller in Stanley Kubricks "A Clockwork Orange" trinken nicht zufällig (mit was auch immer versetzte) Milch, bevor sie sich ihrem Gewaltrausch hingeben. Die weiße Flüssigkeit sorgte verlässlich für ein optisches Spannungsfeld zwischen kindlicher Unschuld und einem bösen oder verkorksten Charakter. Ob Jean Reno in "Leon der Profi", Javier Bardem in "No Country for Old Men" oder Christoph Waltz in "Inglorious Basterds" - bevor sie jemanden erledigen, genehmigen sie sich erst einmal ein schönes Glas Milch. Echte Helden wie James Bond hingegen nehmen auch einen echten Drink, natürlich mit Alkohol.

Schon Roland Barthes schrieb in "Mythen des Alltags" von Milch als "Anti-Wein", der in seiner "Reinheit, in Verbindung mit der kindlichen Unschuld, auch als Zeichen einer unverzerrten, ungehemmten, vielmehr ruhigen, makellosen, durchsichtigen Kraft in voller Harmonie mit der Wirklichkeit" gesehen werden könne. Wahrscheinlich hätte sich Barthes nie träumen lassen, dass Milch mal vom "Anti-Wein" zum "Anti-Getränk" mutieren könnte. Die nächste Filmfigur jedenfalls, die ein Glas Milch trinkt, zeigt keine Brüche - sondern eben nur, dass sie wirklich ein bisschen böse ist.

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