Süddeutsche Zeitung

Micro-Häuser:Wohnraum auf Diät

Mini, Micro, Nano: Wohnen auf kleinem Raum wird immer beliebter. Das geht so weit, dass ein Ehepaar in einem 15-Quadratmeter-Haus lebt - freiwillig.

Von Gerhard Matzig

Dagmar Kohler und ihr Mann Armin trinken Kaffee auf ihrer Holzterrasse vor dem neuen, nur 49 Quadratmeter großen, tatsächlich also eher kleinen Haus. Beide lachen mit dem Sonnenhimmel um die Wette. Wir baumeln, sagt die Szenerie, nicht nur mit den Beinen, sondern vor lauter Glück auch mit der Seele.

Im Hintergrund dieser allzu idyllischen Prospekthaftigkeit steht ein 150 Quadratmeter großes, übliches Einfamilienhaus. Es ist blau gestrichen und scheint, im Abseits, etwas beleidigt zu sein. Es ist das Ex-Haus der Kohlers. Darin wohnen jetzt Sohn Moritz, Schwiegertochter und Enkelkinder. Das große Haus haben die Kohlers zugunsten einer dreimal kleineren und dreimal flotteren Flachdachkiste eingetauscht. Das neue Ding, smart, schlank und jugendlich, lässt den alten Kasten noch etwas älter aussehen. Und die Oldies lachen sich eins.

Nachfrage nach Minihäusern steigt

"Bis Mitte 2015 hatten wir schon so viele Aufträge für Minihäuser wie im gesamten Jahr 2014", sagt Carola Kochner von der SchwörerHaus KG, "Tendenz steigend." Der schwäbische Fertighaushersteller, der seit fünf Jahren eine stetig wachsende Nachfrage nach Minihäusern mit mobilen, bis zu 50 Quadratmeter großen Wohnmodulen unter dem Begriff "Flying Space" beantwortet, wirbt gern mit den Super-Laune-Kohlers.

Deren Geschichte illustriert den wachsenden Smarthaus-Markt auf typische Weise: Das alte Haus, sonst immer zu klein, ist irgendwann zu groß; die Kinder haben nun selbst Kinder; das Putzen großer Häuser macht keinen Spaß, die Instandhaltung ist teuer, die Energiekosten sind hoch ... kurz: Das Leben fühlt sich allmählich an wie in einem ausgeleierten alten XXXL-Pullover - irgendwie falsch. Vor allem aber unzeitgemäß, denn: Weniger ist mehr.

Ein Haus wie eine Coke "Zero"

Mini-, Smart-, Micro-, Compact- oder Tiny-Houses sind die Antwort der Wohnbauwirtschaft auf einen gesamtgesellschaftlichen Trend zur Reduktion. Die Simplify-Ära wohnt sich schlank. Dem Slim-Fit-Ideal in der Mode, der Coke "Zero" im Supermarkt und dem Drei-Liter-Auto auf der Straße entspricht die Less-is-more-Immobilie.

Die Gründe für die neue Niedlichkeit im Wohnbereich sind nicht nur modischer Natur: Kleinere Häuser brauchen weniger große Grundstücke (die es in den Ballungszentren auch kaum gibt); sie sind billiger, und zwar nicht nur hinsichtlich der Baukosten pro Quadratmeter, sondern auch in Bezug auf die Unterhaltskosten. Obendrein können sie flexibel - und sogar transportabel sein: Tatsächlich gibt es etliche Minihäuser auch mit Rädern, die sich der Lebenssituation anpassen. Da sie meist modular aufgebaut sind, können sie problemlos erweitert oder verkleinert werden, sie ziehen mit um, wenn der Beruf das erfordert - und illustrieren so auch eine immer dynamischere Gesellschaft der neuen Nomaden.

15-Quadratmeter-Haus

Das führt zu einem fast schon bizarren Wettbewerb der Liebling-ich-habe-das-Haus-geschrumpft-Kultur. Der amerikanische Architekt Jeff Broadhurst hat beispielsweise ein Haus entworfen, das nur 23 Quadratmeter Wohnraum umfasst. Er sagt: "Die kleine Hütte dient als eleganter Unterschlupf, ausgestattet mit Küche und Schlafbereich, hat dabei nur minimalen Effekt auf die Umwelt und lässt sich schnell aufbauen." Der Prototyp steht in Bethesda, Maryland.

Es geht aber noch kleiner. Ein norwegisches Schriftstellerpaar ließ sich kürzlich vom Architekturbüro Jarmund/Vigsnaes in Oslo ein nur 15 Quadratmeter großes Haus zwischen Autoparkplatz und Bahnhof setzen. In dem schwarz lackierten Holzhaus wird unten gearbeitet und oben entspannt. "Mehr braucht man nicht", sagen die Literaten. Nein, eher noch weniger - das müssen sich die Architekturstudenten der Bauhaus-Universität Weimar gedacht haben, als sie eine "mobile Wohn-Box" mit nur zehn Quadratmeter Wohnraum entwickelten. Transportiert wird die Box mit einem Kleinlaster.

Leben im Vier-Quadratmeter-Gartenhäuschen

Vorläufiger Sieger in der aktuellen Minimundus-Konkurrenz dürfte aber der Münchner Werbetexter und Performancekünstler Tommy Schmidt sein. Er ist vor einigen Wochen in ein nur vier Quadratmeter großes Gartenhäuschen gezogen. Die Aktion, die auf Youtube dokumentiert ist ("mei sweet Hoam"), ist auch eine Antwort auf jene Wohnpreise in Ballungszentren, die in Wahrheit Mondpreise sind. Die dazu gehörigen Eigenheime oder Wohnungen werden oft mit dem Vokabular "großzügig", "repräsentativ" oder auch "herrschaftlich" annonciert.

Schmidt macht die Tür seines sweet Hoams auf, deutet hinein und erklärt: "Ein Bett, dann gibt es noch eine Kommode, eine Heizung, ich glaube, dass ich nicht mehr brauche." Man muss sich den antiken Philosophen der Bedürfnislosigkeit, Diogenes, der in einer Tonne lebte, als Münchner Performance-Schmidt im Gartenhaus vorstellen.

Zum Vergleich: Schmidts Bleibe würde genau zweitausendmal in das Haus passen, das sich der amerikanische Milliardär David Siegel in Florida entwerfen ließ. "Das Versailles der Siegels", wie es der Tagesspiegel nennt, umfasst 8000 Quadratmeter Wohnfläche. Es gibt eine Bowlingbahn, eine Eislaufbahn und eine Rollschuhbahn, darüber hinaus zehn Küchen, eine Sushi-Bar, zwei Tennisplätze, ein Baseballfeld und mehr. Umgerechnet knapp 90 Millionen Euro kostete das größte Eigenheim der Welt. Gebaut wurde es allerdings vor dem Börsencrash, bei dem auch die Milliarden der Siegels pulverisiert wurden. Seither ist das neue Versailles im Prinzip das, was auch das alte Versailles darstellt: ein ruinöses Mahnmal der Gigantomanie. Gebaute Vergangenheit.

Internet-Foren wie "Tiny Houses - Wohnen auf kleinem Raum" illustrieren dagegen schon eher die Zukunft. Nach einer Studie (Deutsche Bank Research) müssen bis 2030 weltweit etwa eine Milliarde zusätzlicher Wohnungen fertiggestellt werden, um die Folgen der Verstädterung und des globalen Bevölkerungswachstums zu lindern. Schon jetzt leben 400 Millionen Stadtbewohner in kritisch überbelegten Wohnungen. Der Wohnbau, so melden sich auch deutsche Politiker unisono, sei - auch mit Blick auf die aktuellen Flüchtlingsströme - "das Gebot der Stunde" (Wolfgang Bosbach).

Das "Small House Movement", also der Trend zu kleineren Häusern und auch insgesamt zu kleineren Wohneinheiten (bei gleichzeitig größeren, gemeinschaftlich nutzbaren öffentlichen Räumen), kommt insofern zur rechten Zeit und könnte in letzter Konsequenz mehr sein als ein ästhetisches Gadget für Leute, die schon alles haben.

Senioren, die Flying Spaces ordern

Die neue Bescheidenheit wird ja, siehe Griechenland-Desaster, gerne von jenen gepredigt, die es sich leisten können, sparsam zu sein. Der in die Austerität eingebaute Zynismus lugt zuweilen hinter so mancher Minihaus-Edelstahl-Fassade hervor, wo der minimalistische Designerraum auch schon mal an die 150 000 Euro kosten kann.

Zwar werden die weltweiten Probleme kaum durch Mini-Häuser zu lösen sein - aber intelligente, kompakte und neu interpretierte Raumnutzungen werden dennoch helfen, die Zukunft zu gestalten. Nicht die Quantität an Quadratmetern ist daher entscheidend, sondern deren räumlich-architektonische Qualität. Hier bietet sich der minimalistische Wohntrend als Labor neuer Wohnideen an - und als Schlüssel zu einem neuen Markt.

Diesen Trend bestätigt auch Christian Heuger von der Firma Smarthouse. Im Bereich "Wohnen unter 50 Quadratmeter" gebe es "stetiges Wachstum" in einem Geschäftsmodell, dem Soziologen eine große Zukunft vorhersagen. Denn die geringere Wohnfläche der Minihäuser käme auch der wachsenden Zahl von Alleinstehenden, Alleinerziehenden oder Paaren ohne Kinder entgegen. Den Rest besorgt die demografische Entwicklung. Ein Großteil der Flying Spaces, heißt es bei Schwörer, wird von Senioren geordert.

Architektur muss nicht groß sein, um groß zu sein

Jahrzehntelang ist der Flächenbedarf beim Wohnen gestiegen. Noch 1965 beanspruchte eine Person in Deutschland, rein statistisch, 22 Quadratmeter. Schon im Jahr 2002 waren es 43 Quadratmeter. Und in den USA stieg die Größe von Einfamilienhäusern von durchschnittlich 165 Quadratmeter im Jahr 1978 auf 230 Quadratmeter im Jahr 2007. Und das, obwohl in den gleichen Zeiträumen in den meisten Industrienationen die Anzahl der in einem Haushalt zusammenlebenden Personen gesunken ist. Nun könnte die Vervielfachung des Wohnraums, von der Wohnungsnot nach den Weltkriegen bis zur Ambiente-Adipositas der Gegenwart, an ein Ende gelangt sein.

Die ersten freiwilligen Diäten haben jedenfalls schon jene Wohnzimmer erreicht, in die zuletzt noch Sofalandschaften von der Größe kleiner Inseln geliefert wurden. Möbelhäuser wie "XXXLutz" werden das Extra-Large, das im Namen steckt, wohl bald durch XS-Sondereditionen schrumpfen lassen. Letztlich lebt man eben doch in einer kleinen Welt, und große Architektur musste noch nie groß sein, um groß zu sein.

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