Mexiko:Insekten sind Teil der Esskultur

Chocolate with Chinicuil, Chahuis  and chapulines (grasshoppers) edible insects

Beliebt sind Grashüpfer auch als Pralinentopping, genauso wie Mehlwürmer und Käfer.

(Foto: Moment/Getty Images)

Geröstete Grashüpfer, getrocknete Ameisen, Tarantel-Tacos und Kakerlaken in Schokolade: Mexiko-Stadt ist für seine Insektenküche berühmt. Ein Streifzug.

Von Boris Herrmann

Bei der Zubereitung von frischen Taranteln kommt es auf die Sorgfalt an. Getötet werden sie durch einen dreiminütigen Kühlschrankaufenthalt. Danach erst einmal gründlich waschen, sagt Pedro Felipe Hernández Hernández. Und - ganz wichtig - Parasiten entfernen, die Haare bleiben nämlich dran. Dafür verwendet er eine Kalklösung. Anschließend gibt er seine Spinnen in Kochwasser mit einem Schuss Mezcal, bevor sie für 30 Minuten mit reichlich Limetten in den Ofen kommen. Dann serviert er sie mit Tacos und Guacamole.

Hernández Hernández, der auf seinen Doppelnachnamen Wert legt, aber auch versteht, wenn man der Einfachheit halber nur Hernández sagt, betreibt das Restaurant "La Cocina de San Juan" im Zentrum von Mexiko-Stadt. Es ist eine unscheinbare Taquería: vier Tische, in der Ecke ein Fernseher, zur Straße hin offen. Wer will, kann hier auch einfach nur ein Bier trinken oder Hühnchen bestellen. Die meisten Gäste kommen aber wegen der Spezialkarte.

Ganz oben, gewissermaßen als Empfehlung des Chefs, steht da sein berühmter Tarantel-Taco. Es ist auch mit Abstand das teuerste Gericht des Hauses. 700 Pesos, gut 32 Euro, verlangt Hernández. Pro Spinne. Er sagt: "Das ist eine kostbare Delikatesse. Da bekomme ich im Einkauf für denselben Preis ein ganzes Kilo Grashüpfer." Geröstete Grashüpfer, Chapulines, sind ein in Mexiko allseits beliebter Snack. Und für Fremde so etwas wie ein Einsteigerinsekt. In der Cocina de San Juan werden sie nach Oaxaca-Art zubereitet, mit Zwiebeln und Chili.

Fast überall auf der Welt sind essbare Insekten heute irgendwie Thema. Sie gelten als Nahrungsmittel der Zukunft, weil sie einen deutlich höheren Eiweißanteil als Wirbeltiere haben und auch in großen Mengen verhältnismäßig ressourcenschonend gezüchtet werden können, auf kleinem Raum und mit relativ geringem Wasserverbrauch. Seit einigen Monaten erlaubt eine EU-Lebensmittelverordnung den Verzehr. Während europäische Forscher und Verbraucherschützer noch über das Für und Wider diskutieren, werben Start-ups und kochende Trendsetter auch in Deutschland bereits für diese Fleischalternative.

Krokodil mit Würmchensoße

Mexiko ist da schon weiter. Dort sind Insekten auf dem Teller weder Zukunftsdebatte noch Mutprobe, sondern seit Langem Teil der Esskultur. Das geht zurück auf die prähispanische Küche der Indigenen, die immer Insekten aßen. Zuletzt hat sich die Insektenküche auch unter jungen Leuten in Mexiko-Stadt wieder zum Massenphänomen entwickelt. Es gibt Insektenrestaurants aller Preisklassen, von der einfachen Taco-Bude bis zum Gourmetlokal. Im Kochbuch "Mexico" von Magarita Carillo Arronte, einem Standardwerk, stehen Rezepte mit Grashüpfern, Ameisen und Würmern ganz selbstverständlich neben Enchiladas, Quesadillas und Ceviche.

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Grashüpfer gehören in Mexiko zu den beliebtesten essbaren Insekten. Man rollt sie zum Beispiel in Tacos.

(Foto: imago/UIG)

Pedro Felipe Hernández, 36, hat sein Restaurant vor fünf Jahren eröffnet. Sein Vater betrieb damals schon einen Stand auf dem Insektenmarkt im historischen Stadtzentrum. Der lief so gut, dass dem Sohn irgendwann die Idee kam: "Alter, wir machen einen Laden auf!" Hernández Senior hatte ursprünglich mit exotischen Fleischsorten angefangen, mit Krokodilen aus Yucatán vor allem. Daher gibt es im Restaurant San Juan auch Fusion-Gerichte, die beides vereinen: Krokodil mit Würmchensoße zum Beispiel. Natürlich weiß auch Hernández, dass Würmer oder Spinnen nicht zu den Insekten zählen. Aber der Gastronom schert sich wenig um biologische Klassifizierung. Bei ihm läuft alles, was krabbelt und kriecht, unter Insektenküche. Ganz einfach.

Hernández verschwindet jetzt kurz in der Speisekammer und kommt mit einem Teller Ameisen zurück zum Tisch. "Chicantana", sagt er, "kann lebendig sehr schmerzhaft sein, aber ist getrocknet ein Traum." Man kaut sie in der Regel ohne Beilage. Geschmacksnoten von Café und zu lange gezogenem Rooibos-Tee mischen sich im Abgang mit einem Hauch von Zartbitterschokolade. In den südmexikanischen Bundesstaaten Guerrero, Veracruz, Oaxaca und Chiapas, der ärmsten Gegend des Landes, gehören Chicantanas zum täglichen Brot. "Super nahrhaft. Ein paar Ameisen, dann bist du satt", sagt Hernández. Anschließend ist aber noch genug Platz, um eine Portion Escamoles zu probieren, Ameiseneier. "Unser mexikanischer Kaviar!"

Skorpione aus der Wüste von Durango

Die Speisekarte im San Juan liest sich wie ein Kompaktreiseführer durch dieses Land, das eben nicht nur aus Drogenhandel und Kartellkriegen besteht. Im Gegenteil. In Mexikos vielfältiger Kultur mischt sich manchmal bizarres Brauchtum mit einer aufregenden Gegenwart. Und am aufregendsten manifestiert sich das in der Küche, die in Europa viel zu lange auf Texmex reduziert wurde. Dabei hat man in Mexiko Kakao und Avocados schon Jahrtausende kultiviert, bevor die Spanier einfielen.

Und es ist auch keine Mode, sondern Traditionspflege, wenn die Köche dort frittierte Gusanos de Maguey anbieten, Larven, die an Agavenbäumen leben, eine Spezialität aus Hidalgo. Hernández mag die weißen lieber als die roten, "die sind schön fleischig. Die anderen haben mir zu viel Crunch." Aus dem kulinarisch besonders interessanten Oaxaca stammen seine Jumiles, Wanzen, die dort direkt aus dem Baum in die Tortilla geschüttelt werden. "Wenn man reinbeißt, krabbeln dir immer einige aus dem Mund", erklärt Hernández. Und seine Skorpione lasse er aus der Wüste von Durango anliefern. "Gut gekocht sind sie nicht mehr giftig."

Mexiko: Auf Märkten werden die Grashüpfer kiloweise verkauft und dann geröstet.

Auf Märkten werden die Grashüpfer kiloweise verkauft und dann geröstet.

(Foto: Omar Torres/AFP)

So sensationslustig das klingt, in der kleinen Kantine San Juan wird das alles angenehm unaufgeregt verspeist. Skorpion als Hausmannskost, mit Corona-Bier. Da geht es auf dem "Festival der essbaren Insekten" im Stadtteil La Roma Norte aufgeregter zu. Das liegt auch daran, dass La Roma das Künstler- und Trinkerviertel der mexikanischen Hauptstadt ist. Ein Ort, an dem es schon Hipster gab, bevor das Wort erfunden wurde.

Anfang der 50er-Jahre versuchte hier der Beatnik William S. Burroughs - frei nach Wilhelm Tell -, seiner Frau Joan Vollmer ein Schnapsglas vom Kopf zu schießen. Leider tötete er sie dabei versehentlich. Nur ein paar Straßen weiter lernten sich etwa zur selben Zeit Fidel Castro und Che Guevara kennen, die vielleicht nicht unbedingt als Hipster durchgingen, aber wenig später bei der Revolution von Havanna immerhin Hipsterbärte trugen.

Wenn der Koch die Tarantel falsch gart, wird ihr Gift nicht abgebaut

Und in einem pittoresk heruntergeranzten Hinterhof dieses welthistorisch bedeutenden Viertels steht jetzt Erik Gallardo mit seinem Bart, der Castro neidisch gemacht hätte, und verkündet die Dessert-Revolution: Kakerlake auf Edelschokolade. Hygiene-Bedenken sind unnötig, Gallardo züchtet seine Cucarachas selbst, und sie fressen nur Kopfsalat und organische Möhrchen. Bevor sie auf ihrem Schokoladenbett landen, werden sie drei Tage lang ausgehungert, "zur Selbstreinigung", dann in Alkohol gekocht, gegrillt und am Ende karamellisiert. Was Gallardo seinen Kunden verspricht, ist Sünde ohne Reue: "Sie haben 35 Prozent mehr Protein als ein Rumpsteak und weniger Cholesterin als eine Garnele." In der Schlange steht eine Frau mit rundem Bauch und fragt: "Dürfen das auch Schwangere essen?" Claro, que sí, sagt Gallardo. Die Frau isst. Für eine Kakerlake, die die meisten nicht mal geschenkt in der Küche haben wollen, zahlt man hier fast vier Euro.

Gleich nebenan werden am offenen Feuer Insekten-Burger gegrillt und Insekten-Pizzen gebacken. Junge Eltern schlürfen an Heuschrecken-Cocktails und stellen ihre Kinder mit Grashüpfer-Eis ruhig. Man fühlt sich hier wie am Streetfood-Donnerstag in der Kreuzberger Markthalle Neun, bloß halt mit Krabbeltieren. Erstaunlich ist die Breite des Sortiments. In der Stadt existiert offenbar schon eine florierende Insektenbäcker- und Konditorenbranche, es gibt Kuchen, Torten, Brote, Kekse, Brownies oder Cupcakes, wahlweise mit Ameisen, Larven, Schaben oder sonstigen Gliederfüßern. Und alles sehr kunstvoll angerichtet.

Auch Pedro Felipe Hernández hat hier einen Stand, an dem es aber nur einfache Küche gibt: Taco und Tarantel, fertig. Ein französischer Tourist verzehrt das in drei Bissen. Er sagt: "Recht trocken, bisschen bitter." Erst als der Kunde alles runtergeschluckt hat, beginnt Hernández von den "seltenen Nebenwirkungen" des Tarantelkonsums zu erzählen. "Manchmal ist danach die Zunge etwas taub." Der Franzose steckt den Zeigefinger in den Mund: "Bei mir geht's." Einmal, fährt Hernández fort, mussten sie auf dem Insektenmarkt einen Kunden mit entzündetem Rachen ins Krankenhaus bringen. "Aber das waren Anfänger. Die haben die Spinne tatsächlich in Öl frittiert, da wird das Gift nicht vollständig abgebaut." Diejenigen, die eh nur um den Stand herumstehen, um zu staunen, freuen sich über diese Geschichte. Der Franzose geht jetzt lieber mal weiter.

Später am Abend sitzt Pedro Felipe Hernández wieder vor seinem Lokal im Zentrum. Die letzten Gäste haben gerade bezahlt, er trinkt einen Feierabendschnaps, in dem ein Skorpion schwimmt. Zum Abschluss dieses langen Tages, sagt er, wolle er sich mal etwas Besonderes gönnen. Dann ruft er dem Hilfskoch in der Küche zu: "Mach' mir mal 'ne Putenbrust!"

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