Süddeutsche Zeitung

Mode im Metaverse:Nichts zum Anziehen

Viele Modemarken wollen ins Metaverse, sogar virtuelle Handtaschen und Parfüms gibt es dort zu kaufen. Aber wo und was ist das eigentlich? Eine Expedition in eine andere Realität.

Von Silke Wichert

Die Luxusindustrie sah in den Nullerjahren plötzlich ziemlich alt aus. Kein guter Look für eine Branche, die einen nicht unerheblichen Teil ihrer Daseinsberechtigung aus der Zukunft zieht - nämlich aus dem Anspruch, ziemlich genau zu wissen, was die Menschen morgen tragen wollen. Nur wie und wo sie das Gewünschte kaufen werden, da lagen Designer wie CEOs mit ihrer Prognose damals eindrucksvoll daneben. "E-Commerce" war in der Modewelt anfangs so verpönt, dass es stets wie "Iiiiihhh-Commerce" klang. Luxusmode online bestellen, ohne Anprobe? So ganz gewöhnlich per Post nach Hause liefern lassen? Undenkbar, ihr seid ja alle auf dem Holzweg.

Es kam dann bekanntlich anders. Spätestens seit der Pandemie werden sogar Luxusuhren ziemlich selbstverständlich online geordert. Mytheresa.com, der Ableger des Münchner Ladens Theresa, setzt mittlerweile mehr als 600 Millionen Euro mit Edelmarken um. Die Labels selbst kamen ziemlich langsam in Gang, noch im Jahr 2014 verkauften knapp 40 Prozent der Luxusmarken nicht übers Netz. Über die digitalen Spätzünder werden bis heute Witze gemacht.

Das soll bloß nicht noch einmal passieren. Deshalb waren Luxusmarken für ihre Verhältnisse früh dran, als das Metaverse zur Dimension der Zukunft ausgerufen wurde. So richtig definieren konnte das Schlagwort zunächst zwar niemand, aber egal, wo oder was dieses Dings genau war, diesmal würde man bei allen digitalen Abenteuern dabei sein. Bereits 2019 lancierte Louis Vuitton, immerhin eine der teuersten Marken der Welt, also die ersten "Skins" für das Spiel League of Legends. Bald folgten solche digitalen Outfits, die man innerhalb des Spiels erwerben kann, auch für Fortnite, wo inzwischen auch Marken wie Balenciaga oder Moncler vertreten sind.

Gucci bietet mittlerweile selbst virtuelles Parfüm an

2021 eröffnete Gucci eine eigene "Gucci Town" auf der Online-Spiele-Plattform Roblox, wo Nutzer spielen, chatten, virtuelle Freunde treffen und eigene Welten kreieren können. Gerade bekam auch das neue Gucci-Parfüm Flora einen eigenen Garten, inklusive Avatar des Werbegesichts Miley Cyrus. Besucher können dort im Online-Store neben Taschen und Accessoires nun auch das digitale Parfüm in einem Rucksack mit Doppel-G kaufen.

Und Ende März wurde dann vollmundig die erste Metaverse Fashion Week der Welt ausgerufen, die aber eben nicht in der realen Welt, sondern auf der Plattform Decentraland stattfand. Marken wie Etro, Tommy Hilfiger und Dolce & Gabbana zeigten digitale Laufstegshows mit Avataren. Die Zuschauer selbst konnten sich ebenfalls als Avatar dort bewegen. Das ganze Setting erinnerte noch stark an Second Life und ruckelte derart, dass viele User entnervt aufgaben. Am 11. September wird Tommy Hilfiger erstmals seine physische Show in New York parallel als Avatar-Version auf Roblox zeigen. Und sowohl die echten als auch die virtuellen Entwürfe werden - es geht schließlich ums Geschäft - sofort erhältlich sein.

Allenthalben also große Ankündigungen der Marken, das Metaverse zu erobern. Wobei der schillernde Begriff oft noch ziemlich unscharf verwendet wird. "Kein Wort wird aktuell so häufig falsch verstanden wie Metaverse", sagt Marjorie Hernandez, eine der wichtigsten Stimmen in Deutschland, wenn es um digitale Mode geht. Die gebürtige Venezolanerin gründete bereits 2017 den Blockchain-Anbieter "Lukso" mit, vor zwei Jahren folgte "The Dematerialised", ein Marktplatz für digitale NFT-Mode. "Meine Definition mag nicht besonders aufregend sein, aber im Grunde ist es einfach das Internet, nur in der 3.0 Version. Das Metaverse wird nicht gebaut, wie das bei vielen Leuten immer klingt", sagt Hernandez. "Es existiert schon und wächst."

Nach Musik und Filmen soll nun endlich Mode dematerialisiert werden

Ungefähr so vage, wie die Leute sich in den Achtzigern das Internet vorgestellt haben, existierten auch jetzt die unterschiedlichsten Zukunftsvisionen, von denen einige wohl Hirngespinste bleiben werden. "Aber mit ziemlicher Sicherheit werden wir irgendwann fließend von der realen in die virtuelle Welt wechseln und in einem ,Multiverse' leben." Morgens sitzt man also mit der sehr realen Familie am Frühstückstisch, dann nimmt man als Avatar an einer Konferenz im virtuellen Raum teil, abends spielt man ein Augmented-Reality-Spiel und trifft dort Freunde. Für die Modewelt bedeute diese Zukunft vor allem eines, glaubt Hernandez: "Die Entkoppelung von Wert und physischem Produkt." Oder mit anderen Worten: die Dematerialisierung von Kleidung und Accessoires.

Wer gerade in einer ziemlich realen Hose und Oberteil dasitzt, mag diese Vorstellung einigermaßen gewagt finden. Musik lässt sich digitalisieren, Filme und Serien, vielleicht noch Geld - aber Mode? Wie soll das gehen? Wie soll man das anziehen? Und genau hier liegt das Missverständnis. Nicht man selbst, sondern das digitale Ich wird Mode im Metaverse konsumieren.

Mark Zuckerberg stellte das bei einer Präsentation vergangenen Oktober anlässlich der Umbenennung seines Konzerns in, genau: Meta, vor. Der echte Zuck stand da vor seinem Avatar, der genau wie er einen schwarzen Pulli und Jeans trug. Mit einem Wisch hatte der digitale Zuck ein T-Shirt an, danach ein Halloweenkostüm, einen Raumanzug. Den virtuellen Kleiderschrank nach etwas Passendem durchscrollen wie bei Tinder. Nette Spielerei. Auf Twitter hagelte es trotzdem Häme. So lahm sieht die Zukunft aus?

Jenseits von stofflichen Grenzen kann digitale Kleidung unglaublich aufregend sein

Recht hatte die Community. Denn wenn es um Mode im digitalen Raum geht, sollten die Möglichkeiten, endlich einmal, grenzenlos sein. Das Design kann sich lösen von stofflichen Beschränkungen: Kleidung, die ständig die Farbe wechselt, deren Oberfläche wie flüssiges Metall changiert oder in Flammen aufgeht, Formen annimmt, die mit den Naturgesetzen nicht vereinbar wären. Die Meta-Leute twitterten noch in derselben Nacht an Balenciaga, ob sie sie in Metaverse-Modefragen unterstützen könnten. Eine Antwort blieb angeblich aus.

Aber wie macht man Geld mit diesem Konzept, werden die Kunden wirklich für "Nichts" zum Anziehen bezahlen? "Natürlich", sagt Marjorie Hernandez ganz selbstverständlich. "Ich erinnere mich noch gut an einen jungen Typen in Berlin, der mich für verrückt erklärte. Mit digitaler Mode lasse sich nichts verdienen, weil sie ja nichts wert sei." Hernandez lacht laut auf. "Dabei trug er selbst ein T-Shirt von Supreme, das in der Herstellung fünf Dollar kostet, aber locker für 150 Dollar verkauft wird." Mode sei schon lange nicht mehr nur an den materiellen Wert gekoppelt, ihr eigentlicher Wert sei längst irrealer Natur. Bezahlt werde für Status oder Gruppenzugehörigkeit.

Und es wird ja auch längst verdient mit unstofflicher Mode. Eine virtuelle Gucci-Tasche wurde auf Roblox kürzlich für 350 000 der hauseigenen Kryptowährung Robux wiederverkauft, umgerechnet etwa 4115 Dollar - während das gleiche Modell in der echten Welt "nur" 3400 Dollar kostet. Die Plattform "The Dematerialised", an der Hernandez beteiligt ist, launchte auf der Kopenhagen Fashion Week im August ein "phygitales" Kleid mit dem Label Rotate: Für 800 Euro bekommt man ein echtes Kleid mit Flammenprint plus ein NFT des dann virtuell wirklich brennenden Entwurfs dazu, das sich Nutzer auf den digitalen Leib maßschneidern lassen können. Für 80 Euro gibt es nur den digitalen Entwurf fürs Instagram-Ich oder die digitale Ahnengalerie. "Direct-to-Avatar" ist das neue "Direct-to-Consumer".

Laut Business of Fashion wird das Umsatzpotential bis 2030 auf 50 Milliarden Dollar geschätzt. Denn schon jetzt verbringt die Generation Z durchschnittlich acht Stunden täglich online. In der neuen Luxusstudie der Boston Consulting Group gab knapp die Hälfte der Befragten an, sich für virtuelle Online-Shops zu interessieren. Fast zwei Drittel der Käufer zwischen 18 und 34 Jahren finden, dass es durch das Metaverse einfacher wird, Luxusmarken zu entdecken. Balenciaga hat mittlerweile sogar eine eigene "Business Unit Metaverse" eingerichtet. Die Dematerialisierung gilt als nächstes Dorado der Branche.

Dolce & Gabbana setzte mit einer "phygital collection" über fünf Millionen Dollar um

Eine ziemlich gelungene - und lukrative - phygitale Kollektion legte ausgerechnet das sonst mäßig innovative Label Dolce & Gabbana hin. Parallel zur Alta-Moda-Präsentation vergangenen Herbst fand eine Auktion von neun Entwürfen in Kooperation mit der Plattform UNXD statt. Die "Collezione Genesi" bestand aus fünf klassischen Couture-Kleidern mit einer entsprechenden NFT-Version dazu: Stoffe mit noch schimmernderer Oberfläche, ein gläserner Anzug, schier unglaublich funkelnder Schmuck. Die anderen vier Designs waren ausschließlich virtueller Natur. Erlös insgesamt: 1885 Ether (Ethereum cryptocurrency), damals umgerechnet fast 5,7 Millionen Dollar.

"Phygital", also das Zusammenspiel aus physisch und digital, sei definitiv ein Konzept mit großer Zukunft, meint auch Marjorie Hernandez. Beim Kauf eines Produkts könnten Kunden immer gleich den digitalen Zwilling dazu bekommen, um ihn auch im Metaverse nutzen zu können: beim Flanieren in Roblox, auf der nächsten Fashion Week oder wenn der Avatar an einem Video-Call teilnimmt.

Um sich darin ungehindert zu bewegen, sei es wichtig, so die Unternehmerin, dass das Metaverse niemandem gehöre, weder dem Konzern Meta noch einem Gaming-Anbieter, sondern in Zukunft ein freies Universum sei. Sonst zahle man etwa für ein Outfit auf Roblox, das man dann aber nicht für ein Konzert auf Fortnite nutzen kann. Oder man müsse einen bestimmten Beautyfilter für seinen Avatar womöglich mehrfach kaufen. "Das wäre in etwa so", meint Hernandez, "als würdest du sehr viel Geld bei Dior im Laden lassen, und dann sagen die Verkäufer: Oh, tut uns leid, die Sachen können nur hier im Laden getragen werden, mit nach draußen nehmen dürfen Sie sie nicht." Undenkbar. Oder?

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