Süddeutsche Zeitung

Mode:Stöckel tragen, männlich bleiben

Der vierfache Großvater Marc Bryan zeigt sich in Bleistiftröcken und High Heels, doch damit ist er auf Instagram nicht der einzige. Warum folgen ausgerechnet ihm eine halbe Million Menschen?

Von Jan Kedves

Klack, klack, klack. Es fing an mit diesen Instagram-Videos, in denen eine Person in irre hohen Absätzen über den Bahnsteig eines Pendler-Bahnhofs stakst. Die Handykamera ist am Boden platziert, die Person läuft von der Kamera weg, das heißt, man sieht erst die Pumps, dann diese wahnsinnig muskulösen Waden. Das muss ein Extremsportler sein! Der Mann trägt Bleistiftrock und ein Herrenhemd mit Funktionsanorak. In der Hand hält er eine schickere Variante einer Aktentasche. Er ist offenbar auf dem Weg zur Arbeit, und weil er noch schnell ein Video von seinem heutigen Outfit hochladen wollte, ist er etwas früher gekommen, damit außer ihm noch niemand auf dem Bahnsteig ist.

Der Mann heißt Mark Bryan und ist einer der meistbestaunten High-Heels-Träger der Welt. Sein Instagram-Profil @markbryan911, auf dem er seit Februar 2020 seine stattliche Sammlung von Pumps, Stiefeletten und hochhackigen Boots vorführt, zählt mehr als eine halbe Million Follower, zu den berühmtesten unter ihnen gehören der Modedesigner Marc Jacobs und die Popsängerin Rihanna. "Es gibt auf Instagram Tausende Profile von Männern, die Absätze und Röcke tragen, also fragen Sie mich bitte nicht, warum ausgerechnet ich so viel Aufmerksamkeit bekomme", sagt Bryan, 61, wenn man ihn, ja: danach befragt. Eine Deutung hat er dann aber doch: "Vielleicht liegt es daran, dass ich hetero bin und zeige, dass man Stöckel und Röcke tragen und dabei männlich bleiben kann. Ich will jedenfalls nicht irgendeine feminine Seite von mir zum Ausdruck bringen. Die gibt es nämlich nicht."

Mark Bryan ist dreifacher Vater und vierfacher Großvater - nun gut, das könnte man auch als homosexueller Mann sein. Aber genau gegen diese Annahme wendet sich Bryan: dass ein stöckeltragender Mann schwul oder queer oder Dragqueen sein müsse. "Clothes and shoes should not dictate a person's sexual orientation or gender", schreibt er unter jeden seiner Instagram-Posts, denn das ist sein Credo: Man sollte aufgrund von Kleidung oder Schuhen nicht auf die sexuelle Orientierung oder das Geschlecht einer Person schließen. Aus dem Mund eines Familienvaters, der dank Schuhgröße 41 problemlos in die Standard-Frauengrößen von Christian Louboutin und Jimmy Choo passt, hat man so einen Satz noch nicht oft gehört. Aber logisch ist das ja irgendwie schon: Seit Jahren redet man in der Mode von Geschlechtslosigkeit beziehungsweise von Fluidität und dem Aufweichen starrer Gender-Grenzen. Warum sollte nicht auch jemand wie er sich davon ermutigt fühlen?

Seine Frau hat mit seinem Outfit keine Probleme

In der Mode reißt man sich jedenfalls um ihn. Er wurde als Model verpflichtet, von Balenciaga bis Zalando, und seit das amerikanische Interview Magazine im März eine Fotostrecke mit ihm druckte, klingeln die Redaktionen Sturm. Die griechische, die deutsche, die tschechische und slowakische Vogue haben über ihn berichtet. Da kann es wohl nicht mehr lange dauern, bis Anna Wintour anruft? "Anna wer?", fragt Mark Bryan. Von der Chefredakteurin der Vogue in New York hat er angeblich noch nie gehört.

Zum ersten Mal hochhackige Schuhe ausprobiert habe er vor 40 Jahren als College-Student, erzählt Bryan. Seine damalige Freundin war mit Pumps größer als er, also zog auch er welche an - um ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Bryan, der aus einer "small country and western town" in Texas, USA, stammt, fand das nicht merkwürdig. Haben nicht die Stiefel der Cowboys in Texas auch irgendwie Absätze? Und war es nicht im 17. Jahrhundert für Herzöge und Könige in Europa ganz normal, Absätze zu tragen? Man denke an das berühmte Gemälde von Ludwig XIV., auf dem der französische Sonnenkönig seine schlanken, seidenbestrumpften Waden in Schuhe mit roten Absätzen steckt. "Wenn Männer damals Absätze trugen, zeigte das nur, dass sie zum Adel gehörten. Etwas Neues ist das nun wirklich nicht", findet Mark Bryan.

Seine Freundin in Texas mochte ihn in Heels, und auch seine heutige Frau, wegen der er vor elf Jahren nach Baden-Württemberg gezogen ist, hat nichts dagegen. "Ich werde nicht zum anderen Menschen, wenn ich hohe Absätze und einen Rock anziehe, ich fühle mich nur schicker", sagt er. "Ich ziehe auch keinen sexuellen Kick aus der Sache." Die Fußballen würden ihm irgendwann schon wehtun, andererseits sei er ziemlich schmerzbefreit. "Ich kann mit Zwölf-Zentimeter-Absätzen problemlos 200 oder 300 Meter laufen", sagt er stolz.

Bryans Spezialgebiet ist die Robotik

Welche Reaktionen erlebt er auf der Straße? Frauen kämen auf ihn zu, um ihm zu sagen, dass er toll aussehe und dass er ihnen Lust mache, selbst auch mal wieder Heels anzuziehen, erzählt er. Und Männer? Glotzen die nicht, wenn er morgens so im Regionalexpress nach Crailsheim im Landkreis Schwäbisch Hall sitzt? "Nun ja, manche schauen mich schon mit diesem Blick an, der sagt: Was machst du denn da? Aber dann kümmern sie sich wieder um sich selbst. Jüngere Männer sind häufig sogar neugieriger, sie sprechen mich auch mal an." Wie ist es mit den Kollegen in der Firma? Bryan ist seit 35 Jahren Maschinenbauingenieur mit Spezialgebiet Robotik, er arbeitet für ein Unternehmen, das auf Verpackungsanlagen spezialisiert ist. Die Kollegen haben kein Problem mit seinem Auftritt, sagt er. Die Roboter auch nicht.

Probleme gibt es eigentlich nur mit Homosexuellen. "Viele sehen auf Instagram scheinbar nur meine Fotos und lesen nicht meine Bio. Das sind die Schlimmsten! Sie glauben gar nicht, wie viele Fotos ich bekomme, die ich gar nicht sehen will", sagt Bryan. Er verdreht die Augen dabei und man versteht: Er bekommt dick pics zugeschickt. In seiner Freizeit treibt Bryan, siehe die Waden, jede Menge Sport. Auf Instagram postet er manchmal Fotos aus seinem Arbeitszimmer, bei dem Video-Anruf mit ihm sieht man im Hintergrund ein Rennrad und Football-Helme. Früher sei er semiprofessioneller Mountain-Biker gewesen, heute trainiert er die Crailsheim Titans, einen fränkischen Verein für American Football.

In der hypermaskulinen Football-Welt sei es ihm als Coach wichtig, nicht nur den Sport und Ehrgeiz zu vermitteln, sondern Respekt füreinander. Es sei schon vorgekommen, dass Jungs im Teenager-Alter sich ihm anvertraut hätten: "Coach, ich glaube, ich bin nicht so wie die anderen Jungs, ich fühle anders, was soll ich machen?" Er habe geantwortet: "Mach dir keine Sorgen, das ist in Ordnung. Und dann habe ich dem Team gesagt: 'Nicht alle hier sind genauso wie du. Wir sind alle unterschiedlich. Aber wir sind eine Mannschaft.'"

Er wird angegriffen und bleibt dabei immer freundlich

Muss man ihn nicht einfach lieben, diesen Mark Bryan? Während andere in seinem Alter nichts Neues oder anderes mehr an sich heranlassen wollen, lernt er mit über 60 Jahren, was es bedeutet, "cis" zu sein - nämlich mit einer männlichen Geschlechtsidentität in einem biologisch männlichen Körper zu leben. Indem er auf Instagram sein Coming-out als Pumps-Lover zelebriert, macht er sich freiwillig angreifbar. Man muss nur einmal die Kommentarspalten auf seinem Profil durchlesen - die Bandbreite der Beschimpfungen ist groß. Bryan antwortet mit einer Engelsgeduld, immer freundlich. Drei Stunden täglich kümmert er sich um seinen Instagram-Account.

Das Bild wird mit seiner Liebe zu Pos und Porsches abgerundet. Seit er so viel Aufmerksamkeit bekomme, trainiere er noch härter, dreimal die Woche, "um meinen Po fester und geformter zu bekommen, was für einen alten Mann wie mich ja gar nicht mehr so leicht ist", grinst er. In seiner Freizeit steht er in der Garage und werkelt an seinem Porsche 911 von 1967. Der sei "ziemlich verrostet", er wolle ihn selbst auf Vordermann bringen. Fährt sich ein 911 mit Stilettos anders, langsamer oder schneller? "Nein", sagt Mark Bryan. "Aber im Porsche ziehe ich die Heels sowieso aus, weil die Absätze den Teppich unter den Pedalen kaputt machen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5343425
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/marli
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.