Drei Berliner Jungs durchstreifen ein roh verputztes Gebäude, sie tragen Schmuck, Western Boots und erstaunlich gut geschnittene Sakkos. Die Wackelkamera folgt den jungen Männern durch Gänge und über Treppen, Dämmerlicht, gegeneinander geschnittene Szenen, bedeutungsvolle Blicke: Wie man Mode halt in einem Werbefilm inszeniert, wenn sie richtig avantgardistisch wirken soll.
Im Fall von Manheimer Berlin geht es aber nicht bloß um den extralässigen Auftritt. Das Männermode-Label ist neu und gleichzeitig sehr alt, modern und trotzdem traditionell; die Wurzeln liegen an der Jerusalemer Straße in Mitte und reichen bis in die Wohnviertel deutscher Exilanten in Rio de Janeiro. Kurz, Manheimer hat, was in der Mode von unschätzbar hohem Wert ist und in turbulenten Zeiten sogar das Überleben sichern kann: eine Geschichte. Durch Zufälle, einige wichtige Begegnungen und Geschäftssinn wird diese Geschichte gerade wiederbelebt. Und weil nach der Corona-Krise das viel beschworene Storytelling wahrscheinlich noch wichtiger sein wird als vorher, lässt sich eine spannende Historie sehr gut nutzen - als Marketinginstrument. Was Manheimer betrifft, ist das nicht frei von bitterer Ironie.
"Formal wear for informal people", unter diesem Slogan bewirbt das Label seine schnörkellosen Anzüge, Mäntel, Hemden und Accessoires für Großstadtmänner. Die Entwürfe sind klassisch, ohne bieder zu wirken, gefertigt wird bei Herrenschneidern in Süditalien. Sie beliefern den Online-Shop mit Zweiteilern aus mitternachtsblauem Wollstoff, Vierknopf-Jacketts oder blütenweißen Hemden mit Sportmanschetten, "natürlich mit extra flachen Perlmuttknöpfen". Der Preis ist mit rund 1000 Euro für einen Anzug vergleichsweise moderat, gemessen an der soliden Verarbeitung, dem im Digitalverfahren individuell angepassten Schnitt. Und dass die Pullover auch in rasantem Fuchsia zu haben sind, geht in Ordnung. Nicht nur, weil Magazine wie Esquire die Farbe für 2020 als männertauglich erklärt haben ("Pink rules"). Modischer Wagemut gehört bei diesem Unternehmen von Anfang an dazu.
Die jüdischen Konfektionäre machten Berlin zu einer schillernden Modestadt
Die Geschichte beginnt vor fast 200 Jahren mit dem Sohn eines einfachen jüdischen Kantors. Als sich Ende 2018 eine Gruppe von fünf Berliner Investoren aus dem Medien- und Kunstbereich an die Wiederbelebung seines Erbes macht, weiß kaum jemand über dessen Bedeutung Bescheid. Valentin Manheimer hatte um 1840 mit seinen Brüdern die Textilfirma Gebr. Manheimer in der Jerusalemer Straße gegründet und später als "Mantelkönig" glanzvoll Karriere gemacht, zunächst mit Herren-, später mit Damenmodellen. Der spätere Kommerzienrat, im Alter verewigt auf einem Prunkgemälde im Historienstil, gilt als Begründer der Konfektionskleidung: Er brachte Garderobe von der Stange in großer Menge und ordentlicher Qualität unter die Leute. Davor gab es nur die Maßschneiderei oder, fürs einfache Volk, Selbstgenähtes. Manheimer wurde reich und berühmt, der Name des Familienbetriebs stand über Jahrzehnte für stilbewusste Garderobe. Man betrieb eine Filiale in London, exportierte nach Paris und New York.
"Damals konnte Berlin als Modestadt international mithalten. Die Konfektionäre hatten ein schillerndes Viertel geschaffen, das Kunden aus der ganzen Welt anzog", sagt die Ethnologin Kristin Hahn, die sich mit der Geschichte des Areals um den Hausvogteiplatz beschäftigt. Luxuswarenhäuser eröffneten, es entstand die Kultur des Flanierens, die jüdischen Modeunternehmer kleideten Filmstars ein: eine pulsierende Epoche in der Hauptstadt. Mit dem Aufstieg der Nazis war alles vorbei.
Der Unternehmer Lothar Eckstein, einer der Gründer der neuen Marke, möchte dieses Erbe in doppelter Hinsicht fortführen. Ihm geht es um klug konzipierte Männerkollektionen (vieles davon ist unisextauglich) und um historische Verantwortung. "Ich finde es schockierend, dass dieser Zweig der Bekleidungsindustrie, der jüdisch geprägt war, nie aufgearbeitet wurde", sagt Eckstein. Die Berliner Konfektion sei für die Entwicklung der Mode zum Massenphänomen entscheidend gewesen. "Im Grunde wurde die Branche, wie wir sie heute kennen, dort erfunden."
Auf die große Vergangenheit verweisen Details der aktuellen Entwürfe. So entspricht das dunkle Blau eines Innenfutters dem Farbton, der schon früher ein Markenzeichen war. Die Uhrentasche von damals ist heute das Smartphone-Fach, der "Berliner Zweireiher" greift die Ausführung mit vier Knöpfen anstelle der gängigen drei auf. Diese stofflichen Reverenzen - als kreativer Kopf wurde der Designer Michael Sontag engagiert - sollen das Interesse von Kunden wecken, die nicht nur ästhetische Ansprüche haben, sondern Geschichtsbewusstsein. Dass es die gerade heutzutage gibt, ist die feste Überzeugung von Eckstein. "Es ist cool, etwas zu besitzen, das eine Geschichte hat." Ein Extra für Anzugkäufer: Kostenlose Anpassung bei ausgewählten Schneidern vor Ort.
Am Ende der Wege steht die neue alte Modemarke
Die jüdische Modeindustrie in Berlin mit ihrem Sinn für Eleganz, Lebensart und Innovation endete in Flucht, Vertreibung, Deportation. Im Fall der Manheimers hatte schon die Weltwirtschaftskrise die Geschäfte ruiniert, die Firma des Mantelkönigs existierte seit Anfang der Dreißigerjahre nicht mehr. Im Dezember 1938 konnte sein Nachkomme Bruno Valentin Deutschland gerade noch Richtung Brasilien verlassen. Er war aufgewachsen mit der Betriebsamkeit am Hausvogteiplatz - ganz in der Nähe erinnern bis heute am Gebäude des ehemaligen Konfektionshauses die verschnörkelten Initialen VM an den Unternehmensgründer.
Dass die Spuren inzwischen von Rio de Janeiro zurück nach Berlin führen, hat mit Zufällen zu tun. Bruno Valentins Enkel Andreas Valentin lehrt Fotografie an einer Hochschule in Rio - und kam just in dem Jahr für ein Projekt nach Berlin, als Kristin Hahn an ihrer Studie zur Geschichte der Konfektion arbeitete. Valentin liest darüber in der Zeitung, nimmt Kontakt auf, eine Ausstellung folgt. Bei der Vernissage ist Lothar Eckstein einer der Gäste. Am Ende all der Wege, die sich kreuzen, steht die neue alte Modemarke Manheimer Berlin.
"Es ist wunderbar, dass der Name Manheimer wieder lebendig ist", sagt Andreas Valentin beim Anruf aus Brasilien. Seine Aufenthalte in Berlin, die Fahrradtouren zu Orten, an denen seine Vorfahren lebten und arbeiteten, nennt er eine Entdeckungsreise zu den eigenen Wurzeln. "Das war sehr berührend für mich." Obwohl sein Großvater 1938 nicht endgültig Abschied von Deutschland nahm und später mit seiner Frau sogar zurückkehrte, "war mein Leben ein brasilianisches Leben". Nach und nach setze er jetzt die bewegte Vergangenheit seiner Familie wie ein Puzzle zusammen: mit Begegnungen, Gesprächen - und nicht nur anhand von Dokumenten und Fotografien.
Andreas Valentin sagt, dass sich für ihn auch die Wahrnehmung von Kleidung verändert hat. Dass er einen Anzug von Manheimer Berlin besitzt, versteht sich von selbst, und er zieht ihn auch an, wenn der Anlass dafür steht. Aber es geht eher um die grundsätzliche Sicht auf das, was Menschen ausdrücken mit dem, was sie tragen. Er habe das Gefühl, als Kunsthistoriker gerade ein neues Feld für sich zu entdecken. "Mein Blick auf Mode hat sich verändert. Ich möchte mehr darüber wissen, welche Geschichten sie erzählt."