SZ: Herr Bittner, die Luxusbranche steckt in der Krise. Die großen Marken verzeichnen sinkende Umsätze – allein im vergangenen Jahr sollen sie rund 50 Millionen Kunden verloren haben, nicht zuletzt, weil die Preise immer absurder werden. Gut fürs Geschäft bei Ihnen, oder?
Maximilian Bittner: Zumindest läuft es bei uns besser als im klassischen Luxussegment. Wir haben den großen Vorteil, dass unser Modell sehr organisch wächst. Das Angebot ist ja bereits da – in den Kleiderschränken der Menschen, Nachschub ist kein Problem. Deshalb haben wir uns im vergangenen Jahr gut gehalten, und aktuell sehen wir sogar einen Anstieg bei den Verkäufen.
Weil alle sparen müssen und deshalb auf Secondhand umsteigen?
Ich denke, da kommen zwei Dinge zusammen. Ein Teil der Krise ist hausgemacht. Viele Luxusmarken haben ihre Preise in den vergangenen Jahren so drastisch erhöht, dass viele Kunden sagen: „Das ist mir jetzt einfach zu teuer.“ Ich schließe mich da selbst mit ein, obwohl ich wahrscheinlich weniger preissensibel bin als die meisten. Aber auch ich habe meine Grenze. Und auf der anderen Seite geben viele Menschen schlichtweg weniger für Luxus aus, weil sie nicht mehr so viel verfügbares Einkommen haben. Von beiden Faktoren profitieren wir natürlich. Aber man darf auch nicht vergessen: Vintage-Mode kann ebenfalls teuer sein. Auch wir haben Kunden verloren, und andere kaufen weniger als früher.
Secondhand gilt oft als besonders nachhaltig. Aber wenn man den Nutzern zuhört, scheint am Ende doch das Sparen am wichtigsten zu sein.
In den vergangenen zwei Jahren ist das Thema Nachhaltigkeit definitiv in den Hintergrund gerückt. In unseren Umfragen sagen viele Kunden auch, dass sie bei Vestiaire Collective Dinge finden, die sie sonst nirgends bekommen. Aber ja, der Preis spielt auf jeden Fall eine große Rolle.
Ist das der Grund, warum Sie auf der Plattform jetzt „Fashion Activism“ promoten? Nutzer werden regelmäßig dazu aufgefordert, Fast Fashion ein Ende zu setzen. Aber theoretisch kann man diese Teile doch auch weiterverkaufen?
Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viel analysiert und Nutzer befragt. Immer wieder wurde deutlich: Diejenigen, die weniger, aber hochwertiger kaufen, verhalten sich doppelt so nachhaltig. Fast Fashion wird von den Erstbesitzern oft weniger sorgfältig behandelt, weniger getragen und schneller weggeworfen. Außerdem ist es viel schwerer weiterzuverkaufen und hat dramatische ökologische und soziale Auswirkungen. Deshalb haben wir nach und nach immer mehr Marken wie Zara, H&M und Mango von unserer Plattform ausgeschlossen. Wir wollen den Kreislauf von Überkonsum und Überproduktion durch Fast Fashion nicht weiter anheizen.

Jedes Jahr landen 92 Millionen Tonnen gebrauchter Kleidung auf Mülldeponien. Zum Black Friday haben Sie ein Video veröffentlicht, das den New Yorker Times Square zeigt, begraben unter Bergen von Kleidung. Lassen sich die Leute davon beeindrucken?
Ich bin sicher, viele sehen das nicht gern, weil es ihnen einen Spiegel vorhält. Aber ich glaube, unser Slogan „Think first, buy second“ bringt viele zum Nachdenken. Natürlich sorgen solche Kampagnen auch für Aufmerksamkeit – wir bekommen danach immer einen Schub an neuen Nutzern. Aber wir sehen es auch als unsere Aufgabe, die Menschen aufzuklären und zu einem bewussteren Konsum zu ermutigen. Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft sind schließlich tief in unserer Unternehmens-DNA verankert.
Was sagen H&M und Zara dazu?
Offiziell bekommen wir kein Feedback zu unseren Kampagnen. Aber inoffiziell haben sich einige Marken bei uns gemeldet, um darüber zu sprechen, wie wir in Zukunft besser zusammenarbeiten könnten. Konkretes ist bislang allerdings nicht dabei herausgekommen.
In Ihrem früheren Job standen Sie selbst eher auf der „dunklen Seite“ der Nachhaltigkeit: In Südostasien haben Sie Lazada aufgebaut, einen sehr erfolgreichen Amazon-Klon.
Das stimmt. Man könnte sagen, ich arbeite gerade daran, die Sünden meiner Jugend wiedergutzumachen. Lazada war im Prinzip Shein und Temu, bevor es Shein und Temu gab. Wir waren schon 2013 online. Ein Viertel unseres Geschäfts damals bestand aus Fünf-Dollar-Kleidern, 13-Dollar-Tablets und billigen Küchenutensilien. Ich bin mir sehr bewusst, wie sehr sich meine Einstellung und mein Konsumverhalten über die Jahre verändert haben.
Wie kaufen Sie heute ein?
Ungefähr die Hälfte meiner Garderobe ist secondhand. Und bei allem, was ich neu kaufe, frage ich mich automatisch: Hat das später noch einen guten Wiederverkaufswert? Ich kann diesen Gedanken gar nicht mehr ausschalten. Was ist eine gute Investition – und was nicht? Ich würde sagen, Männer sind immer noch weniger markenfokussiert als Frauen. Aber eine Marke wie Brunello Cucinelli hält ihren Wiederverkaufswert extrem gut. Was auf dem Secondhand-Markt gefragt ist, spiegelt oft den Primärmarkt wider.
Verkaufen Sie auch selbst?
Absolut. Aber ich habe immer zu wenig Zeit. In den letzten Wochen habe ich nur vier Artikel eingestellt: einen Loro-Piana-Pullover, den ich bei Vestiaire gekauft habe, der mir aber nicht passte, ein Paar Celine-Schuhe, eine Jacke von Saint Laurent und einen Pullover von Prada. Alles schon verkauft.
Sie haben vorhin erwähnt, dass die Beschaffung kein Problem ist. Allein bei Vestiaire Collective werden täglich 30 000 neue Artikel eingestellt. Es heißt, weltweit liegt noch ungetragene Kleidung im Wert von einer Billion Dollar in den Schränken. Gleichzeitig wächst die Konkurrenz bei den Resale-Plattformen. Wie kommen Sie an die echten Schätze?
Idealerweise, indem wir den Menschen klarmachen, dass sie bei uns einfach und effizient verkaufen können.

Aber wer das Geld nicht braucht, hat vermutlich wenig Lust, den Sonntag damit zu verbringen, Fotos zu machen und Sachen hochzuladen.
Verstehe ich total – geht mir genauso. Deshalb müssen wir an anderen Stellen kreativ werden. Wir haben jetzt direkte Partnerschaften mit Gucci, Burberry und Chloé. Da können Kunden ihre Vintage-Stücke direkt in den Stores abgeben. Außerdem arbeiten wir eng mit Mytheresa zusammen. Deren Personal Shopper bieten VIP-Kunden eine Art Kleiderschrank-Check an, und wir übernehmen dann den Verkauf. Der Erlös wird als Mytheresa-Guthaben gutgeschrieben. Unser eigenes VIP-Consignment-Programm haben wir auch beibehalten. Für besonders gute Kunden kommen wir sogar nach Hause und übernehmen alles: von professionellen Fotos über die Beschreibung und Preisfindung bis hin zu Verhandlungen – natürlich für eine etwas höhere Kommission.
Ihr Vater soll laut gelacht haben, als Sie ihm vor sechs Jahren erzählt haben, dass Sie nach Paris gehen, um bei einer Modeplattform zu arbeiten.
Stimmt. Ich habe mich früher nie besonders für Kleidung interessiert.
Und jetzt tragen Sie Jeans von Saint Laurent für 700 Euro.
Ja, aber vor allem, weil ich sie viel länger trage und sie sogar schon zweimal habe reparieren lassen. Das hätte ich mit meinen günstigeren Jeans früher nie gemacht.
Sie sind in München geboren und aufgewachsen. Erinnern Sie sich an Ihr erstes Secondhand-Erlebnis?
Ganz genau! Auf dem Flohmarkt in der Au. Ich war vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Da gab es Kleidung, aber auch Möbel. Meine Eltern haben damals einen alten Holzschrank gekauft. Das hat mich sehr beeindruckt. Ich war total fasziniert von diesem privaten Marktplatz.
Stimmt es, dass Sie während Ihres Geschichtsstudiums in London einen Schwerpunkt auf Revolutionen gelegt haben?
Ja, das passt wahrscheinlich ganz gut zu meiner revolutionären Ader. Meine Lehrer im Gymnasium würden das bestätigen. Es gibt nichts Besseres, als den Status quo ein bisschen durchzurütteln.
In gewisser Weise haben Sie nun eine Konsum-Revolution mitangestoßen – vom Firsthand- zum Secondhand-Kauf. Jetzt steht mit KI die nächste an. Künstliche Intelligenz übernimmt auch auf Ihrer Plattform immer mehr Aufgaben. Wie sieht Vintage-Shopping in Zukunft aus?
Ich glaube nicht, dass sich das dramatisch verändern wird. Es geht eher darum, Prozesse zu vereinfachen und die Customer Experience zu verbessern. Im Idealfall zeigen wir den Leuten genau das, was sie suchen, noch bevor sie es selbst wissen.
Die KI kuratiert ja schon heute eine persönliche Auswahl, basierend auf meinen Käufen und Suchanfragen – trifft aber nicht immer meinen Geschmack.
Die Balance zwischen Personalisierung und Inspiration wird sich weiter verbessern. Genauso wie die Preisvorschläge – da empfiehlt die KI Preise auf Basis früherer Verkäufe ähnlicher Produkte. Ich denke immer: Je günstiger ich etwas anbiete, desto schneller wird es verkauft. Sophie, unsere Fashion Director und Mitgründerin, meint dagegen, wir unterschätzen oft den Wert dieser großartigen Stücke. Die KI wird künftig besser erkennen, wo es Unterschiede zwischen einzelnen Varianten gibt.
Auf Online-Boutiquen wie Net-a-Porter bekommt man seine Bestellung manchmal noch am selben Tag. Bei Secondhand muss man warten, bis der private Verkäufer sich endlich zur Post bewegt. Wie wollen Sie das optimieren?
Das kann ich nur begrenzt beeinflussen – wir sind ja nur der Vermittler, nicht der Verkäufer. Aber ich sehe es auch als eine philosophische Frage. E-Commerce ist toll, ich bin lange genug in diesem Geschäft. Aber die Exzesse der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre – Rabatte, Gutscheine, immer schnellere Lieferungen – haben die Kunden verwöhnt. Ich glaube, das Pendel schwingt langsam zurück. Es klingt vielleicht zynisch, aber in meinen Augen gibt es nur eine Sache, die man wirklich innerhalb von ein, zwei Stunden geliefert bekommen muss: einen Krankenwagen.