Süddeutsche Zeitung

Luftmatratze:Tierisch aufgeblasen

Flamingos, Einhörner, Brezen und Emojis als Schwimmhilfen sind total im Trend. Höchste Zeit für eine Huldigung der guten alten Luftmatratze.

Von Titus Arnu

Man muss nicht Jesus heißen, um übers Wasser wandeln zu können. Pools und Seen sind in diesem Sommer so voll mit Plastikobjekten, dass man eigentlich problemlos trockenen Fußes von Ufer zu Ufer käme, wenn man sich trauen würde. Überall dümpeln luftgefüllte Kunststoffkissen in bizarren Formen herum: Flamingos, Einhörner, Krokodile, Pizzastücke, Handys, Jakobsmuscheln, Melonen, Brezen, Schmetterlinge, Schwäne. Wer etwas auf sich hält, postet auf Instagram ein Foto von sich und seinem quietschbunten Schwimmtier, möglichst in farblich abgestimmter Badebekleidung: Cathy Hummels posiert auf einem goldenen Flamingo, David Beckham reitet einen blauen Pfau, und Wayne Carpendale chillt auf einer grünen Schildkröte.

Die bunte Artenvielfalt im Wasser bringt jedoch Probleme mit sich. Wer soll die Viecher alle aufpusten? Wo kann man überhaupt noch ein paar Meter schwimmen, ohne mit einem Einhorn zu kollidieren? Manche Badeinseln kommen einem ja so überdimensioniert vor wie ein Flugzeugträger, ausgestattet mit Sofa, Palme, Dach, Bar, Großfamilien können auf ihnen den Sommerurlaub verbringen. Neben der Umwelt, die noch mehr Plastikmüll verkraften muss, gibt es einen weiteren Verlierer: die gute alte Luftmatratze. Klar, die Luftmatratze wirkt nicht mal halb so glamourös wie ein goldener Schwan oder ein rosa Einhorn. Dafür ist sie aber auch nicht so windig und wackelig wie so ein schnöseliger Flamingo.

Es ist nicht leicht, harte Fakten über aufblasbare Körperunterlagen zu finden, das Thema liegt eher so in der Luft. Vergleichende Statistiken über Verkaufszahlen von Schwimmtieren versus Luftmatratzen gibt es nicht. Und ja, es ist nicht so, dass die Luftmatratze schon zu den vom Aussterben bedrohten Amphibienarten gehört. Man sieht sie allerdings nur noch selten im Wasser. Outdoor-Fachhändler haben durchaus Dutzende Luftmatratzen im Angebot, aber die meisten davon sind selbstaufblasende, superleichte Thermomatten, die eher bei Himalaya-Expeditionen Verwendung finden als am Baggersee. Zum Schwimmenlassen sind sie viel zu empfindlich und wertvoll, einige Modelle kosten mehr als 200 Euro.

Ein grundlegendes Accessoire für den Sommer

Die Invasion der Einhörner täuscht darüber hinweg, dass die Luftmatratze lange als grundlegendes Accessoire zum Sommer gehörte, etwa wie Dosenravioli zum Campingurlaub. Die bunte Plastikmatratze diente als Schlafunterlage, Schwimmhilfe, Windschutz beim Kochen, Sitzbank beim Essen und farbiger Hintergrund für grelle Ferienfotos. Und sie war ein Teil der Popkultur: Dustin Hoffman ließ sich 1967 im Film "Reifeprüfung" auf einer Luftmatratze treiben, bis er seine Unschuld verlor. Performance-Künstlerinnen wälzten sich in den Siebzigern auf Matratzen, die mit Acrylfarben begossen wurden. Das Erfolgsmodell Airbnb hatte seinen Ursprung auf einer Luftmatratze, die von einer WG in San Francisco als Schlafgelegenheit vermietet wurde (Airbnb ist eine Abkürzung für "Luftmatratze mit Frühstück").

Ihrem künstlichen, oberflächlichen Wesen nach zu urteilen könnte die Luftmatratze eine Erfindung der 1960er- oder 1970er-Jahre sein, wie die Hollywoodschaukel, die Plastik-Plateausohle und Abba. Doch sie stammt aus dem Jahr 1405. Dieses Datum trägt eine Skizze des fränkischen Kriegstechnikers Konrad Kyeser, der eine aufblasbare Schwimmhilfe für Soldaten konstruierte, inklusive Pumpe; von Kyeser stammt übrigens auch die älteste bekannte Zeichnung eines metallenen Keuschheitsgürtels. Mit aufblasbaren Materialien wurde sogar noch früher experimentiert: Die Soldaten des assyrischen Königs Assurnasirpal II. überquerten um 880 v. Chr. angeblich einen Fluss in einem Floß aus gewachsten und zusammengenähten Tierhäuten, die mit Luft gefüllt waren - der antike Prototyp des heutigen Gummiboots.

Die Luftmatratze als Unterlage zum Schlafen hat ebenfalls eine lange Geschichte. In Ben Jonsons Theaterstück "The Alchemist" aus dem Jahr 1610 sagt die Hauptfigur: "Ich möchte alle meine Betten aufgeblasen und nicht gestopft haben." Damals wurden Matratzen mit Stroh, Tannennadeln oder Laub gefüllt, eine ideale Brutstätte für Wanzen und anderes Ungeziefer. In Frankreich wurde damals mit gewachsten Segeltüchern und Ventilen experimentiert. Nur reiche Adelige konnten sich die sogenannten Windbetten leisten. 1839 entwickelten Ingenieure für die englische Armee aufblasbare Boote und einen aufblasbaren Ponton, Anfang des 20. Jahrhunderts gab es dann Matratzen aus vulkanisiertem Gummi.

Badekitsch in Form von Einhörnern, Flamingos und Kack-Emojis

Vom Kriegsgerät aus Tierhäuten bis zum PVC-Pfau, auf dem ein stolzer Profiboxer thront, das ist ein weiter Weg, angesichts dessen einem fast die Puste wegbleibt. Symbolisiert der grelle Badekitsch in Form von Einhörnern, Flamingos und Kack-Emojis (ja, auch die gibt es als Luftmatratze) also die Krönung der Evolution oder ihren Untergang?

Vielleicht muss man hier mal kurz die Luft anhalten und die Sache auf das reduzieren, was es ist: eine Schwimmhilfe aus Kunststoff. Wobei "Hilfe" schnell eine andere Bedeutung bekommen kann, wenn man nicht ein paar Regeln beachtet. Vor dem Ertrinken bieten Luftmatratzen, Schwimmnudeln, Babyboote und aufblasbare Tiere keinen Schutz, selbst Delfine und Wale nicht. Experten raten, beim Kauf auf die Kennzeichnung EN 13138 zu achten. Die Schwimmhilfe ist dann nach einer strengen europäischen Sicherheitsnorm geprüft und gilt als einigermaßen unsinkbar.

Welche Tragweite ein ordentlich gefülltes Luftkissen haben kann, erlebte Olga Kuldo im Sommer 2018. Die 55-jährige Russin wollte sich im Urlaub auf Kreta eigentlich nur kurz im Meer abkühlen, legte sich auf ihre Luftmatratze und schloss die Augen. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie abgetrieben wurde und begann, panisch mit Armen und Beinen zu paddeln. Sie rief um Hilfe, winkte, alles vergeblich. Auf ihrer Matratze, die die Form eines Eises am Stiel hatte, trieb Kuldo aufs offene Meer. Es wurde Abend, es wurde Nacht, ein Sturm zog auf. 21 Stunden später zog die griechische Küstenwache die Russin aus dem Wasser, sie war total erschöpft, aber sie lebte. Mit einer Hand umklammerte Olga Kuldo noch ihr Gummi-Eis.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4552345
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 05.08.2019/mkoh
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.