Es ist die wichtigste Show der Saison, wenn nicht des Jahres; manche sagen sogar, es ist die wichtigste Show, seit Tom Ford bei Yves Saint Laurent angefangen hat, und das war im Herbst 2000. Trotzdem ist nichts nach draußen gedrungen. Kein Statement, kein Interview, nicht der Schnipsel eines Looks. Umfrage in der Front Row: Was ist von dem neuen Designer zu erwarten? "Wir werden etwas völlig Neues sehen", vermutet das Model Stella Tennant, "er wird seinen Look für Vuitton komplett verändern." Nicole Phelps von Style.com glaubt an Minimalismus, ihr Kollege Tim Blanks sagt schwarzes Leder. Carine Roitfeld, einst Chefin bei Vogue und immer noch eine der großen Strippenzieherinnen, lässt eine graue Stiefelspitze wippen und sagt: "Ich erwarte gar nichts. Es wird so oder so großartig. Der Mann ist ein Genie, n'est-ce pas?"
Lassen wir Nicolas Ghesquière doch selbst zu Wort kommen, schließlich hat er auf jedem Platz ein Brieflein platziert. "Heute ist ein neuer Tag. Ein großer Tag. Sie werden heute meine erste Kollektion für Louis Vuitton sehen. Worte können nicht ausdrücken, wie ich mich in diesem Moment fühle. . ." Mittwoch, 5. März, Cour Carrée du Louvre, 10 Uhr. Monatelang hat die Modewelt auf diesen Moment gewartet. Jetzt ist er da.
Meister der Silhouette
Die Erwartungen könnten nicht größer sein. Der 42-jährige Franzose kommt nicht als Irgendwer zu Louis Vuitton, er kommt als Jesus Christ Superstar der Branche. 1997, mit 25, fing er als Kreativchef von Balenciaga an und riss das Haus aus dem Tiefschlaf. Sein Look gilt als epochemachend. Ghesquière steht für radikalen Futurismus und verwegene Materialien wie Latex und Neopren. Vor allem aber ist er der Meister der Silhouette, seine superschmalen Hosen und voluminösen Pullis haben die Kritiker jedesmal aufjapsen lassen. Ghesquière war es, der die steifen Keulenärmel und überschnittenen Schultern von Cristóbal Balenciaga aus dem Archiv holte, dann sah man sie plötzlich überall. Bis heute.
Die Balenciaga-Show war das hottest ticket in town, aber profitabel war sie nicht. Was 2012 schließlich zum Bruch mit dem Mutterkonzern Kering führte: Ghesquière sollte kommerzieller werden, und das wollte er nicht. Über seinen Nachfolger Alexander Wang muss man eigentlich nur wissen, dass einem in acht Tagen Paris kein einziges Mal die rituelle Frage gestellt wurde: Hast du Balenciaga gesehen?
Nun also der Lederwarengigant Louis Vuitton. Wo Marc Jacobs die Kleidersparte überhaupt erst erfunden und sie dann 16 Jahre lang verantwortet hat. "Ich verbeuge mich vor dem Werk von Marc Jacobs, dessen Erbe ich von ganzem Herzen respektieren werde", schreibt Ghesquière. Dabei könnte der Kontrast zwischen den beiden nicht größer sein. Auf der einen Seite der flamboyante Marc, der für LV gigantische Retro-Shows inszenierte, seinen tätowierten Körper und exzessiven Lifestyle ausstellte, immer eine Handbreit vom Abgrund entfernt. Auf der anderen Seite der stille Nicolas, der kaum Interviews gibt und den außerhalb der Mode fast keiner kennt. Auch dafür haben sie ihn hier ja so geliebt: dass sie ihn für sich hatten.
Damit ist es nun vorbei. Das Publikum - fünf Mal so viele Menschen wie bei Balenciaga - sitzt andächtig und nahezu atemlos da, als sich an den Wänden Lamellen öffnen und das Sonnenlicht hereinflutet. Großes Aaah . . . und dann geht es los.
Erster Eindruck: die Sixties. Das ist die Verbeugung vor Marc Jacobs, der aus diesem Jahrzehnt seine stärksten Einfälle bezog. Schmale Kurzmäntel mit Gürtel also, dazu wadenhohe enge Stiefel, ausgestellte Minis und Kleider in A-Linie. Zweiter Eindruck: Louis Vuitton. Ledermäntel, Lederhosen, Lederröcke, unzählige Lederdetails - und selbstverständlich hat der Designer nicht vergessen, seinen Models Handtaschen mit auf den Weg zu geben. Dritter und überwältigender Eindruck: Nicolas Ghesquière. Er hat sich eben doch nicht einfach kaufen lassen, er macht immer noch das, was er am besten kann, und das ist: aus den widersprüchlichsten Materialien die perfekte Silhouette zu erschaffen.
Seine Kollektion ist in der Essenz eine Patchwork-Kollektion. Sagen wir, ein schwarzer Mantel mit rotem Kragen. Oder ein Kleid mit blauem Satinrock und einem Oberteil aus schwarzem Leder, in das blaues Wildleder eingelassen ist. Ghesquière kombiniert Leder mit grobem Tweed, geripptem Strick, geblümter Seide, winzigen Pailletten und noch mehr Leder, er setzt alle diese Bauteile farblich voneinander ab und macht doch jedesmal ein Ganzes daraus. Im Sixties-Schnitt und mit deutlichen Anleihen bei Balenciaga. Man könnte es Retro für die Zukunft nennen, der Designer selbst spricht von Innovation und Zeitlosigkeit. So oder so, es ist relativ phantastisch.
Erleichterung nach der Show
Riesenauflauf backstage. In einer kreischenden und boxenden Menschentraube steckt Ghesquière und strahlt. Er ist gerade eine Tonnenlast losgeworden. Jean Paul Gaultier, bei dem er einst gelernt hat, lobt die Farben, die Muster, die Materialien: "Ich sage nur - bravo!" Das russische Supermodel Natalia Vodianova schwärmt: "Das war sehr Louis Vuitton und gleichzeitig sehr Nicolas, ich möchte das alles haben." Was kein Problem sein dürfte, da der Besitzer ihr Schwiegervater ist: Bernard Arnault, Chef der Luxusgruppe LVMH und zweitreichster Franzose. Louis Vuitton ist seine Cash Cow, und um den ganzen Hype wieder etwas runterzubrechen: Die Kleiderlinie macht gerade mal fünf Prozent des Umsatzes aus. Was gibt es da Besseres als einen neuen Kreativchef, der alle Aufmerksamkeit bündelt? Um dessen Kollektion sich die internationalen Mode-Chefinnen schon zankten, bevor sie sie überhaupt gesehen hatten - weil jede sie als Erste fotografieren und ins Heft heben will?
Bernard Arnault ist einer der ersten Gratulanten und schreitet dann zufrieden von dannen. Wie die Kleider im Laden funktionieren werden, weiß der Teufel. Aber zum Ende der Modewoche gehören alle Schlagzeilen schon mal ganz alleine ihm.