Das gute alte Wirtshaus ist zuletzt oft totgesagt worden. Da tröstet es Stevan Paul, dass er immer wieder Orte findet, an denen es sehr lebendig ist. Für ein besonders schönes Beispiel hält er die Gaststätte zur Erholung in Uetersen bei Hamburg, die als Kulturzentrum ebenso funktioniert wie als Partyveranstalter oder Restaurant. Ein Geschwisterpaar betreibt das Gasthaus in sechster Generation. Die Küche hier ist bodenständig, aber dabei weltoffen und fein. Behutsamer lässt sich Tradition kaum in die Zukunft führen.
Dass früher alles besser war, ist ein Allgemeinplatz, in der Regel reicht eine sachliche Überprüfung, um die Dinge geradezurücken. Vor allem bei so emotional belegten Themen wie dem Wirtshaus. In den Wirtschaftswunderjahren waren Gasthäuser die Nahverköstiger für Stadt und Land - mit dem immergleichen Kanon aus Braten, Schnitzel, Pommes, Kloß und Sauerkraut. Das gelang mal recht, mal schlecht, immer aber stand das Gasthaus auch für Verortung und Selbstbestätigung - bis die Deutschen Ende der 1960er-Jahre die kulinarische Exotik entdeckten, beim Italiener, beim Jugoslawen, im Chinarestaurant. Zur Neugier kam die Bequemlichkeit, 1971 eröffnete der erste deutsche McDonald's, und 50 Jahre später scheint zwischen Comfort-Food und Szenerestaurant kein Platz mehr zu sein für das gute alte Wirtshaus.
Schuld am schleichenden Tod ist aber weniger die trendige Konkurrenz, das Dorflokal gerät ja gerade eher zum Sehnsuchtsort. Verantwortlich für die zunehmenden Schließungen ist viel mehr die Flut an komplizierten behördlichen Verordnungen und oft teuren Auflagen. Zudem fehlt der Nachwuchs; lange Arbeitszeiten bei kleinem Gehalt passen nicht in die Work-Life-Balance-Träume junger Menschen. Besonders hart trifft es die Provinz, wo das Wirtshaus immer auch als soziales und kulturelles Zentrum funktionierte. Genau dieser Aufgabe stellt sich die "Gaststätte zur Erholung": Der Schaukasten kündet eine "Disco op de Deel" (die plattdeutsche Fortführung des alten "Tanzvergnügens") im zugehörigen Festsaal, ein Comedy-Krimi-Dinner, eine Küchenparty und einen Weinabend mit Winzer an. Kurzum: Hier ist was los.
Seit 1862 gibt es das Wirtshaus in Uetersen schon. Das schleswig-holsteinische Städtchen zwischen Elmshorn und Hamburg hat Zukunft, nicht zuletzt weil der Wohnungsmarkt in der Hansestadt stagniert und immer mehr Familien hinaus in die Metropolregion ziehen. Eine Zukunft für den Familienbetrieb wünschen sich auch die Geschwister Anne und Bernd Ratjen. Sie führen die Gaststätte zur Erholung in sechster Generation - mit frischen Ideen und modernem Konzept. Ihr dazugehöriges "Restaurant Schulz" ist aus der alten Wirtsstube erstanden: Der nordisch klar gestaltete Gastraum hat etwas Strahlendes: glatt verputzte Wände mit Schiffsbullaugen zum Gang, freundliches Licht, Holzstühle. Alle Tische sind an diesem Abend besetzt, zu reservieren ist hier ratsam. Wirtshaussterben? Sieht anders aus.
Und mit dem ersten Löffel der dickcremigen Pastinaken-Suppe (6,50 Euro) ahnen wir, dass das nicht nur am gelungenen Ambiente liegen könnte: geröstete und dabei süß karamellisierte Quittenstücke setzen der herrlich rustikalen Suppe die Krone auf. Wer braucht da noch das übliche Gemüse-Konfetti? Gut auch, dass wir Anne Ratjens Weinempfehlung gefolgt sind, der 2017 Chardonnay, La Croix Belle (0,2 zu 6 Euro) ist auch eine formidable Begleitung für den Selleriesalat mit leichtem Senfdressing und Walnusspesto, Winterblattsalaten und Selleriechips (7 Euro). Und das Ganze kommt auch nicht als modisches Teller-Ikebana, sondern als satte Vorspeisenportion: würzig, saftig und so gut, dass wir uns zwingen müssen, nicht zu schlingen.
Bernd Ratjen geht kurz in der guten Stube herum und begrüßt seine Gäste. Bevor er die Küche vor zwei Jahren auf neuen Kurs brachte, sammelte er reichlich Erfahrungen als Koch, unter anderem im Schweizer "Grand Hotel Regina" und in München bei Mario Gambas Sterne-Italiener "Aquarello". Im eigenen Restaurant kocht er regional und reduziert und handwerklich auf bestem Niveau: Das Schmorstück der Heidschnucken-Variation (29 Euro) zergeht in dunkler Sauce, eingelegte Kirschen setzen Akzente. Das Karree ist rosa gebraten, dazu gibt es knusprige Kartoffelwürfel. Das ist es! Und es ist ein Genuss.
Eher ein nordisches Surf & Turf ist die kulinarisch aufgewertete Version eines Klassikers der schleswig-holsteinischen Küche: das "Rübenmalheur" (24,50 Euro). Den deftigen Steckrübeneintopf kombiniert Ratjen nicht nur mit der zugehörigen Kochwurst (fein geschnitten und rösch gebraten), zusätzlich gibt es noch ein saftiges Stück vom Winter-Kabeljau (Skrei) und cremige Senfsauce. Sehr schön!
Die Speisekarte verrät: Das Haus ist Partner der "Regionalwert AG", eines Verbunds norddeutscher Landwirte und Gastronomen, dementsprechend stammen die meisten Produkte von Höfen aus dem näheren Umland. Das Menü erzählt auch vom Selbstverständnis der Ratjens, die sich als bodenständige, dabei weltoffene, norddeutsche Europäer beschreiben. Darum spricht nichts gegen die saisonale Orangen-Variation (9 Euro) mit saftigen Filets, Mousse von weißer Schokolade und einem herausragenden Orangen-Gewürz-Sorbet auf Karamellbasis.
Über allem lächelt zufrieden Ururgroßvater Jacob Schulz vom Wandbild hinter dem Tresen, und er hat Grund zur Freude: Von Beruf Generalvertreter der Hamburg-Amerika-Linie, legte er vor mehr als 150 Jahren den Grundstein für seine Gaststätte zur Erholung, die als modernes Gasthaus und mit dem Restaurant Schulz getrost in die Zukunft blicken darf.