Lokaltermin:Bruder

Wien hat ein neues Szenelokal: Die Beislbar "Bruder" wurde zur Neueröffnung des Jahres gekürt. Völlig zu recht, denn sie verbindet sehr gute Cocktails mit Understatement und neuer Wiener Küche.

Von Katharina Seiser

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Die Beislbar Bruder ist zur Wiener Neueröffnung des Jahres gekürt worden. Zu Recht, findet Katharina Seiser. Das Lokal unterscheidet sich wohltuend von den üblichen Pilgerzielen der Szene. Die Betreiber fallen nicht auf durch zur Schau gestellte Coolness, sondern durch liebenswerte Schrulligkeit und viel Sinn für Qualität. Die Cocktails werden mit selbst gesammelten Wildkräutern serviert, und der hausgemachte Wermut ist der beste der Stadt. Dazu gibt es eine so unprätentiöse wie hervorragende moderne Wiener Küche.

Nüchtern ist am Wiener Lokal "Bruder" nur die Einrichtung: ein hoher, weiß getünchter Raum mit Gewölbe, Ornamentfliesen, Holztischen und schwarzen Stühlen. Von all dem sieht man aber nicht viel, weil es meist recht düster ist. Das wenige Licht lenkt geschickt auf die Essenz dessen, worum es hier geht. Oder muss man sagen: auf die Essenzen? Die Stirnseite des Lokals ist nämlich voll mit großen, hinterleuchteten Gurkengläsern unterschiedlichen Inhalts. Es könnte ebenso ein Chemielabor sein wie eine Essigbrauerei. Beides stimmt irgendwie, denn in den gut hundert Gefäßen befinden sich die mit Früchten, Kräutern, Gemüsen, Blüten und Wurzeln selbst angesetzten Spirituosen und Fermente von Hubert Peter, der hier fürs Trinken zuständig ist.

Nun ist das Selbermachen von Cocktail-Zutaten in der Barszene sehr angesagt, aber kaum jemand macht das so geschmackssicher, konsequent und leidenschaftlich wie Peter. Er war Falstaff-"Rookie-Bartender des Jahres", das Bruder wurde gerade von Craft Spirits Berlin zur "Farm-to-Shaker Bar of the Year" ernannt, und das sind nicht die einzigen Preise, die er und sein fürs Essen verantwortlicher Partner Lucas Steindorfer abgeräumt haben. Ihre Beislbar ist auch zur Wiener Neueröffnung des Jahres gekürt worden. Seit hier vor gut einem Jahr erstmals aufgesperrt wurde, ist das Lokal quasi immer voll (reservieren!). Warum?

Vielleicht weil Peter und Steindorfer wissen, wie ein lustiger Abend geht ("heute lieber rauschig, morgen wieder flauschig" steht auf den Bierdeckeln). Und ganz sicher, weil beide schlicht gute Gastronomen sind: Sie legen Wert auf beste Zutaten, sind gern draußen in der Natur und sammeln Wildpflanzen für ihre Getränke und Gerichte. Sie nehmen Freizeit fürs Team ernst, damit alle die Freude am Bruder behalten. Und sie haben Humor. Das unterscheidet sie von anderen Szene-Wirten, bei denen es oft um schnellen Reibach und zur Schau gestellte Coolness geht. Natürlich ist ihre spleenige Art auch Masche: all die Wortwitze auf der Karte, das zusammengewürfelte alte Geschirr, das Murmeltier "Herbert" im Schaufenster, der Plattenspieler und die LPs von Peter Alexander oder die mit italienischen Schlagern. Doch das Atmosphärische hätte keinen Wert, wären die Cocktails, Fermente und Liköre, die Fisch- und Gemüsegerichte, Teigtascherln und Innereien, die Würste und Desserts nicht so hervorragend.

Lucas Steindorfer hat bei Christian Petz gelernt, einem Großmeister der Wiener Küche und Spezialist für Innereien. Er kocht extrem nahbar und dabei zugleich mutig modern. Keine Schäumchen und Tellermalereien, dafür viel Konsistenz und Geschmack, viel Wildes, Duftiges und Herzhaftes - und viel Butter. Das beginnt mit der Salzzitronenbutter mit Schnittlauch zu bestem Sauerteigbrot, der überraschende Limoncello dazu ist hausgemacht (6,50 Euro). Viele Gerichte werden unkompliziert zum Teilen in die Mitte des Tisches gestellt: geschmorter Chicorée im duftigen Holunderblüten-Dressing mit Ziegenfrischkäse, Topinamburchips und feinsten Haselnüssen (10,50 Euro), cremige Polenta mit gebratenem Brokkoli und Mandeln (15,50 Euro), fantastischer roh marinierter Seesaibling mit fermentiertem Karfiol, Mayonnaise und Safran (11,50 Euro) oder geschmorte Rinderbrust mit Puntarelle und Bohnencreme (19,50 Euro). Wer nur Wermut trinken will, kriegt hier den besten der Stadt (6,90 Euro), auf Basis von Demeter-Wein, Wildkräutern, Honig und Winzer-Brand; serviert mit frisch gebundenen Kräutern, die animierend duften, so wie der Wermut dann in Weiß, Rosé oder Rot schmeckt. Das "Ferment des Tages" (4,90 Euro) kann Mandarine mit Süßkartoffel sein und schmeckt viel aufregender, als es sich liest. Die Cocktails heißen "Nichts geht mehr" (12 Euro) - eine elaborierte Mischung aus Schlehe, Tanne und Radicchio. Oder "Abendröte in Catania" (9,50 Euro) - ein Negroni, bei dem alle Bestandteile hausgemacht sind.

Jeder Drink kommt mit einem detailverliebten Happen aus Fermentiertem oder Eingelegtem, Kandiertem oder Gebackenem. Speise- und Getränkekarte wechseln alle ein bis zwei Monate nach und nach, und wer sich unter "Eile mit Weile" (11,50 Euro), "Ernst sei Dank" (15,50 Euro) oder "Alter vor Schönheit" (9,50 Euro) nichts vorstellen kann, ist in guter Gesellschaft. Es wird alles geduldig erklärt. Bei den genannten Gerichten handelt es sich um Wiener Schnecken in einer dichten Cremesuppe aus saurer Milch und Bärlauch. Ernst wiederum ist der Onkel, mit dem Steindorfer die hausgemachte Bratwurst produziert, serviert mit Erdäpfelpüree, Sauerkraut und Sardellen. Und mit dem Alter im Dessert schließlich sind die Kletzen gemeint - verhutzelte Dörrbirnen in hauchdünnem Teig mit Topfen, Butter und Birnenfruchtgelee. Das ist wie alle Bruder-Desserts zwar gut gedacht, aber im Vergleich zu den Gängen davor ein wenig eintönig süß.

Als Menü kosten fünf Gerichte und Getränke 89 Euro. Es ist aber empfehlenswert, nach Lust und Laune zu entscheiden, einen Gang einfach noch einmal zu bestellen oder mit der Jause "Mir doch Wurst" (9,50 Euro) aufzuhören, wenn es der Gemütszustand erfordert. Das Schöne am Bruder ist, dass sich das heiter-genussvolle Chaos hier wie das einladende Wohnzimmer einer durchgeknallten Großfamilie anfühlt. Einer Familie, die selbstverständlich nur aus Freigeistern besteht.

In einem Satz

Ein Lokal, das Szenigkeit mit Understatement verbindet und großartige Cocktails mit moderner Wiener Küche.

Qualität: ●●●●○

Ambiente: ●●●●○

Service: ●●●●●

Preis/Leistung: ●●●●●

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