Süddeutsche Zeitung

Literatur:Das Bücherparadies

Lesezeit: 3 Min.

Von der Lust des Stöberns und der Freude des Entdeckens: Der Band "Do you read me?" ist eine Verneigung vor einer fantastischen Institution - der Buchhandlung.

Von Anne Goebel

Der argentinische Großschriftsteller Jorge Luis Borges war durch und durch ein Mann des Geistes, wenn auch stets auffallend gut gekleidet, und berühmt ist sein Satz: Das Paradies habe ich mir immer als eine Art Bibliothek vorgestellt. Das ist natürlich beeindruckend immateriell, kein schnödes Konsumieren, nur intellektuelle Freuden. Aber nach wochenlanger Ausgangsbeschränkung, ohne sorglose Einkäufe, ohne ein Gefühl von verschwenderischer Auswahl und Vielfalt an Waren in etwas so konsumistischem wie einem Laden, ist es möglicherweise erlaubt, das Zitat abzuwandeln: Das Paradies kann man sich auch gut als Buchhandlung vorstellen.

Seit wenigen Tagen sind viele Shops wieder geöffnet, dazu gehören auch zahlreiche Buchläden. Wenn man sieht, wie maskierte Menschen sich dankbar vor gut gefüllten Regalen, neben Bestseller-Stößen in Gedrucktes vertiefen, ist das einerseits erstaunlich: War Lesestoff nicht auch in den vergangenen Wochen der Isolation verfügbar? Schon, aber eben auf irgendwie freudlose Weise. Sei es, dass man bei Durchsicht des Bestands im Wohnzimmerregal sich gehorsam vornahm, jetzt aber wirklich mal die 2300 gelblichen Seiten von "Krieg und Frieden" zu lesen (und es doch nicht tat). Oder dass die bestellten neuen Bücher von einem Zusteller bei laufendem Motor in braunem Karton vor der Wohnungstür abgeworfen wurden wie übel riechendes Frachtgut. Dagegen im Buchladen: stapelweise unberührte Seiten, endlose Wahlmöglichkeiten, der Geruch von frisch bedrucktem Papier. Sehr Appetit anregend.

Insofern kommt das Buch "Do you read me?", das dieser Tage im Gestalten-Verlag erscheint, genau im richtigen Moment. Eine Hommage an besonders schöne Buchhandlungen in dieser entbehrungsreichen Zeit, das passt geradezu ideal. Auf 270 Seiten werden Geschäfte von Guatemala über Brooklyn bis Bukarest präsentiert, kleine und große, Nischenanbieter und Generalisten, mal heillos überfüllt, mal kühl geordnet, in der Stadt, auf dem Land, sogar in einer ehemaligen Kirche mit gotischem Gewölbe.

"Gehen Sie hin, es lohnt sich!"

Dass unter den durchweg leidenschaftlich wirkenden Betreibern so viele Quereinsteiger sind, die Ex-Studenten mit der Buchhandlung auf der Kykladeninsel Santorini, der frühere Elektroingenieur und sein Bookshop samt Jazzcafé in Lagos: Das wirkt auf den einen oder anderen krisenerschöpften Leser wahrscheinlich äußerst reizvoll. Jetzt einfach alles hinwerfen und seine Lieblingsbücher in diesem kleinen Urlaubsort am Meer verkaufen? Klingt verlockend, und seiner Fantasie darf man ja freien Lauf lassen, dafür waren Bücher schon immer da.

Vor allem zeigt der Band die besondere Ästhetik dieses Ladentyps. So wie ein Buchhändler nicht nur Verkäufer, sondern auch Berater, Menschenkenner, Verbündeter ist, besteht das Interieur oft nicht einfach aus Regalen und Ablagetischen. Vorgestellt werden liebevoll gestaltete Räume voller wuchernder Pflanzen, mit arabisch gekacheltem Boden oder über den Dächern der Stadt schwebend, mit Designermobiliar, taubenblau gestrichenen Wänden oder freilaufenden Chinchillas.

So schön das alles auch aussieht, diese vielgestaltige Mischung aus Geschmack, Boheme-Anklängen und scharfem Verstand - der Handel mit gedruckten Büchern ist ein hartes Brot. "Wie schaffen die das?", heißt bezeichnenderweise ein kurzer Aufsatz im Textteil des Bands über Nischenbuchhandlungen. Spezialisten mit streng begrenztem Sortiment, Liebesromane zum Beispiel, Kinderliteratur oder Graphic Novels, gelingt es offenbar gar nicht so schlecht, auf einem umkämpften Markt zu überleben. Dennoch: Nicht ohne Grund gerät das Vorwort zu "Do you read me?" von Juergen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, zum Appell an uns alle. "Buchhandlungen sind Orte der Kommunikation, der Neugier und des Neuen", schreibt Boos. "Gehen Sie hin, es lohnt sich!"

Was das Lese-Paradies betrifft, so hat davon jeder seine eigene Vorstellung, genauso wie beim himmlischen Elysium. Für den einen mag es die absonderliche Klause der Libreria Acqua Alta in Venedig sein, wo sich verblasste Bücherstapel in alten Gondeln türmen wie surreale Konzeptkunst. Für den anderen vielleicht die vier luftigen Etagen des Carturesti Carusel in Bukarest, einem renovierten Bau aus der Belle Époque mit viel Weiß an Wänden und Geländern, Platz und Übersicht.

In Borges' Heimat Buenos Aires thront die sehr elegante Buchhandlung El Ateneo Grand Splendid, ein ehemaliges Theater mit verzierten Logen, Samtvorhang und dramatischem Deckengemälde in der riesigen Kuppel. Das mag keine "Biblioteca" sein. Aber formvollendeter kann man Büchern nicht huldigen.

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SZ vom 02.05.2020
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