Lebensmittel:Klein, fix, digital

Julia Köhn

Julia Köhn betreibt eine Online-Plattform für nachhaltige Lebensmittel.

(Foto: privat)

Plötzlich wollen alle bestellen: Die Ökonomin Julia Köhn über die veralteten Lieferketten im deutschen Lebensmittelhandel und was man in der Corona-Krise über unsere Grundversorgung lernt.

Interview von Marten Rolff

Food-Start-ups gelten in anderen Ländern als Motor für Innovation, in Deutschland misst man ihnen noch nicht so viel Bedeutung bei. Zu den wenigen Unternehmern, die Beachtung finden, gehört Julia Köhn. Ihr Lebenslauf macht sie in der Corona-Krise zur gefragten Gesprächspartnerin für Landwirte, Gastronomen und Lebensmittelproduzenten. Die 34-jährige Niedersächsin lebte in China, Holland und Großbritannien, studierte Volkswirtschaft und Philosophie und beschäftigte sich für ihre Dissertation mit der Lehman-Pleite und Systemkrisen in der Wirtschaft. Später baute sie mit Pielers.de einen Onlinemarktplatz für nachhaltige Lebensmittel auf. Zudem hält sie Vorträge über die Zukunft der Lebensmittelversorgung. Corona, sagt Köhn, zeige endgültig, wie antiquiert deutsche Lebensmittelunternehmer arbeiten, wie riskant die Monopolstellung einiger weniger Händler und Hersteller sei, und wie dringend sich die Branche mit Digitalisierung beschäftigen müsse.

SZ: Frau Köhn, die Corona-Krise führt gerade zu einem großen Interesse an Ihrem Geschäftsmodell.

Julia Köhn: Endgültige Zahlen gibt es noch nicht, aber ich schätze, das Kundeninteresse hat sich allein in den ersten Märzwochen verzehnfacht. Mindestens. Wir werden überrannt.

Was wollen all die Menschen von Ihnen?

Sicherheit. Meist sind es Privatkunden, die ihre Lebensmittel plötzlich online bestellen. Dazu kommen Produzenten, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Ware verkaufen sollen. Durch den Lockdown sind vor allem in der Gastronomie Abnehmer weggebrochen; einige Produzenten sitzen nun auf Lagerbeständen. Da kommt es auf die Ware an. Ein paar Kohlköpfe loszuwerden ist kein Problem, doch wie soll man auf die Schnelle 20 Schweinehälften an den Privatkunden bringen? Hinterher ist man immer schlauer, aber es wäre eben gut gewesen, mancher Produzent hätte sich früher um ein digitales Standbein gekümmert.

Sie haben gerade eine Online-Plattform aufgebaut, die derzeit etwa 700 Produzenten nachhaltiger Lebensmittel mit Privatkunden zusammenbringt. Können Sie das kurz so erklären, dass es jeder sofort versteht?

Man muss sich eine solche Plattform vorstellen wie einen riesigen Wochenmarkt, auf dem Obst- und Gemüsebauern, Käser, aber auch Bäcker, Fischzüchter oder Metzger aus ganz Deutschland einen eigenen virtuellen Stand haben. Einer unserer ersten Partner war ein Krabbenfischer.

Sie sind also Zwischenhändlerin?

Nein, der Kaufvertrag kommt direkt zwischen dem Erzeuger und dem Kunden zustande. Wir stellen nur die Technologie und sorgen so für den Rahmen, der eine sichere Abwicklung des Geschäfts garantiert. Ein Plattformbetreiber ist eine Art Marktwächter, der darüber wacht, dass alle geschäftlichen Regeln eingehalten werden. Dafür gibt es eine Umsatzprovision, die variiert. Nur wo etwas verkauft wird, fließt auch Geld an die Plattform.

Wer darf auf Ihrem Markt verkaufen?

Grundsätzlich jeder. Speziell bei Pielers.de nur Erzeuger, die sich bestimmten Nachhaltigkeitskriterien verpflichten und stark auf den Tierschutz achten. Aber das ist nur eine Nische eines riesigen Gesamtmarktes. Es gibt noch so viele Möglichkeiten!

Zum Beispiel?

Im Auftrag der Landwirtschaftskammer in Kiel entwickeln wir gerade die Software für einen Marktplatz, auf dem nur Direktvermarkter aus Schleswig-Holstein verkaufen dürfen. Alle Bedingungen dafür regelt das Bundesland, das Produzenten so den Weg in die digitale Welt erleichtern will. Da sehen Sie schon den Knackpunkt. Wir haben eine digitale Zweiklassengesellschaft. Auf der einen Seite gibt es wenige Pioniere, die früh aus Eigeninitiative im Netz verkaufen. Und dann gibt es sehr viele Betriebe, die mit der Digitalisierung wenig anfangen können; die da fast schon hineingezwängt werden, anstatt die Entwicklung selbst zu gestalten. Viele kleine Bäcker oder Metzger sagen: Digitalisierung? Brauchen wir nicht, unsere Länden sind doch voll! Ein Irrtum. Sehr bald werden Kunden das meiste vom Sofa aus bestellen. Die Krise beschleunigt das.

Legt die Corona-Krise offen, wie schlecht Lebensmittelbranche und Gastronomie auf die Digitalisierung vorbereitet sind?

Als Jungunternehmerin war ich in den letzten zwei Jahren verblüfft, mit welcher Beharrlichkeit wir in Deutschland an alten, zentralisierten Lieferketten festhalten. Die pauschale Antwort auf die Digitalisierung ist: Wieso, es läuft doch, wir müssen nichts ändern. Gefährlich! Wir sehen ja, wie andere Länder uns enteilen. Vor allem die Asiaten zeigen, wie konsequente Vernetzung vom Acker bis auf den Teller funktioniert. Ein klassischer Multi-Channel-Ansatz und längst weltweit ein Modell.

Was ist ein Multi-Channel-Ansatz?

Die Ware wird aus vielen Quellen bezogen, was Lieferketten und Wirtschaftskreisläufe weniger anfällig macht. Bricht eine Quelle weg, weicht man auf andere aus. Kontingente werden berechenbarer, der Einkauf nachhaltiger und für die Kunden transparenter, weil die Herkunft der Lebensmittel rückzuverfolgen ist. Ich kann selbst entscheiden, ob ich mir die Lebensmittel direkt vom Bauern bringen lasse, ob ich sie von einem regionalen Lieferdienst beziehe oder ob ich selbst in einen Supermarkt gehe. Flexibilität für alle entsteht dort, wo diese Angebote auf einer Plattform gebündelt werden. Das aber tut in Deutschland kein einziges Unternehmen wirklich konsequent, das muss man sich mal vorstellen.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Die Deutschen sind ja allgemein als Digitalisierungsskeptiker bekannt, die Ursachen dafür vielfältig. Speziell bei Lebensmitteln ist die Skepsis aber zusätzlich damit zu begründen, dass wir eine hohe Dichte an gut erreichbaren Einzelhändlern haben. Da ist es schlicht oft weniger notwendig, sich beliefern zu lassen. Das mag praktisch klingen, hat aber auch Nachteile.

Welche?

Es bedeutet, dass die Kunden wenige Monopolisten unterstützen müssen, die Preise diktieren und altbackene Wertschöpfungsketten fördern. Dieses System ist weder demokratisch noch krisenfest. Auf kaum einem Lebensmittelmarkt gibt es solche Monopolstellungen wie auf dem deutschen. Ordnungspolitisch wird nichts dagegen getan. All das ist ein Grund dafür, dass Innovation sich in Deutschland nur sehr schwer durchsetzen lässt.

Wieso nicht krisenfest? Die Bundesregierung wiederholt mantrahaft, die Versorgung sei gesichert.

Ist sie im Moment sicher auch. Es gibt keinen Grund für Hamsterkäufe oder Panik. Aber die Risiken in Deutschland sind auf den Schultern zu weniger verteilt. Ein anderes Beispiel: Viele Landwirte liefern einen Großteil ihrer Ernte an bestimmte Handelspartner. Wenn diese wenigen Partner ausfallen, wie jetzt in der Gastronomie, dann bleiben Erzeuger auf Ware sitzen, die vielleicht verderblich ist und gerade an anderer Stelle dringend gebraucht wird. Der Schaden wird so für alle maximiert.

Sie haben promoviert über das Thema "Economics and uncertainty". Das klingt fast wie für diese Krise erfunden.

Ja, ich habe gerade viele absurde Déjà-vuErlebnisse. In der Dissertation habe ich mich mit der Stabilität von ökonomischen Systemen beschäftigt. Die wichtigste These dazu ist: Wer mit Unsicherheit umgehen will, muss in sicheren Zeiten stabile Systeme vorbauen. Breite Netzwerke. Keine linearen Lieferketten, keine systemischen Klumpenrisiken.

Klingt abstrakt. Was sind systemische Klumpenrisiken?

Der Hintergrund war damals die Lehman-Pleite, aus der wir leider zu wenig gelernt haben. Eine Ursache der Finanzkrise war ja, dass es viel zu viele Banken mit denselben Finanzprodukten gab. Als man merkte, dass diesen Produkten Berechnungsfehler zugrunde lagen und alle nichts mehr wert waren, riss es die Geldhäuser im Dominoeffekt in den Abgrund. Klassisches Klumpenrisiko! Keine Bank war breit genug aufgestellt, alle waren fatal miteinander verwoben. Die Krise war ansteckend!

Und das lässt sich auf den Lebensmittelsektor übertragen?

Gut sogar. Die Branche wird ja nicht nur von wenigen Big Playern dominiert. Sie stellen auch noch völlig austauschbare Produkte her. Immer mehr Kunden stört das übrigens, die finden diese Austauschbarkeit zunehmend gruselig. Und nachhaltig ist das natürlich auch oft nicht. Außerdem haben wir dadurch enorme Bestände von immer gleichen Produkte.

Aber das ist in der Krise doch gut: Mainstream-Lebensmittel in Hülle und Fülle - Versorgung gesichert!

Im Gegenteil, es macht uns anfällig.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Ich will hier nichts verschreien. Aber nehmen wir nur mal an, Deutschland bekäme die Corona-Krise schlechter in den Griff, als es zum Glück der Fall zu sein scheint. Und in zwei, drei der ganz großen Schlachthöfe käme es zu mehreren Infektionen. Meine Hypothese wäre, dass damit schnell enorme Teile der Fleischproduktion bei uns vom Zusammenbruch bedroht wären. Das ist erst mal nur Theorie, aber auch hier geht es um systemische Klumpenrisiken. Oder nehmen Sie die Lkw-Staus an den Grenzen, die plötzlich dicht waren. Das Zittern um den reibungslosen Warenfluss. Komplexe, dezentrale Systeme mit vielen kleinen Bausteinen sind hier und da weniger effizient, sie wären aber dafür sicherer.

In der Krise sieht man auch, dass Lieferdienste in Deutschland noch in den Kinderschuhen stecken. Selbst bei großen Ketten wartet man manchmal lange auf Termine. Warum ist es vergleichsweise schwer, sich bei uns beliefern zu lassen?

Weil es die Kapazitäten gar nicht gibt. Und es gibt kaum jemanden, der das Thema mit Leidenschaft betreibt. Das einzige Unternehmen, das in Deutschland ein überzeugendes digitales Supermarkt-Einkaufserlebnis bietet, ist die Firma Picnic aus den Niederlanden. Und die liefern auch nicht landesweit. Das ist fast schon absurd.

Was macht ein gutes digitales Einkaufserlebnis bei Lebensmitteln aus?

Das ist kein Hexenwerk. Zalando schafft das bei Kleidung ja auch. Zunächst mal eine benutzerfreundliche App, die mit künstlicher Intelligenz dafür sorgt, dass ich mir meinen Einkauf nicht ständig neu zusammensuchen muss. Dann eine praktische, nachhaltige, regional organisierte Lieferung. Und natürlich Sinnlichkeit beim Design, schließlich soll die Ware mich ansprechen. Es muss zumindest für manche Situationen attraktiver sein, meine Ware online zu bestellen, als in den Laden zu gehen.

Auch Gastronomen müssen gerade ihre Onlinedienste ausweiten. Sie sind in einer verzweifelten Lage. Viele versuchen, auf Take-out umzustellen, manche verkaufen jetzt Brot. Oder Gulasch in Gläsern. Werden die Erfolg haben?

Das wünsche ich mir natürlich, die Situation ist enorm bitter. Leider waren Gastronomen bisher auch nicht allzu breit aufgestellt. Wir arbeiten ja mit vielen zusammen. An Neukunden merke ich oft, wie wenig Digitalisierung für die ein Thema ist. Wenn die sich für ein Produkt interessieren, fragen viele: Könnt ihr mir den Bestellschein zuschicken? Und wenn man die bittet, über Whatsapp mit dem Bauern direkt zu verhandeln und online zu bestellen, dann heißt es: Computer habe ich nicht in der Küche. Haste mal die Telefonnummer? Viele hantieren noch mit Exceltabellen.

Was ist zu tun?

Das Profil schärfen. Darum muss ich mich als Gastronom weniger kümmern, wenn ich Meerblick oder Innenstadtlage habe; aber alle anderen müssen sich immer mehr anstrengen. Sonst kriegen viele nach der Krise Probleme, an ihr früheres Modell anzuschließen. Kochen wie Lebensmittelanbau sind harte Arbeit und hochkreative Prozesse. Wer es schafft, Kunden an der Arbeit teilhaben zu lassen, der hat eine Zukunft. Storytelling wird bei uns oft belächelt, ist aber wichtig. Ein Wirt ohne klares Profil und Alleinstellungsmerkmal ist im Netz schnell ein unsichtbarer Wirt.

Wird die Krise einen großen Modernisierungsschub bringen?

Das kann jetzt noch keiner sagen. Ich hoffe, dass die Krise ein Weckruf ist, wenn auch leider ein sehr, sehr teurer. Wenn die Branche künftig selbst über sich entscheiden will, wird sie sich modernisieren müssen. Sonst stehen andere bereit, die Technik dafür gibt es ja. Und die Stimmung ändert sich gerade. Bislang galten Lieferdienste für viele Deutsche als böse. Wer in der Krise jetzt just in time liefert, gehört plötzlich zu den Guten.

Zur SZ-Startseite
Nur für Das Rezept Pizza-Schnecken mit Salami, Paprika und Käse von Okka Rohd

Gegen Corona-Stress
:Schafft jeder: Tolle einfache Rezepte

Weil die Nachrichtenlage schon stressig genug ist: Ideen für ein unkompliziertes Mittag- oder Abendessen, wie Pizza-Schnecken, vegetarisches Curry mit Süßkartoffeln oder Ofengemüse.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: