Die Wahrheit zu sagen ist strategisch eh unklug. Wenn einem kein alkoholisches Getränk schmeckt, ist es ja leicht, nichts zu trinken, unfassbar leicht. Das kann sich nur keiner vorstellen: freiwillig Fanta! Deshalb gibt es das wundervolle und gerade bei Frauen verbreitete Missverständnis, man müsse ein sehr, sehr starker Mensch sein, um enthaltsam zu leben. Manchmal muss man ein Missverständnis auch einfach stehen lassen können.
Gesellschaftliche Anerkennung kann sich der Nicht-Trinker sonst bloß noch als Chauffeur vollbedüdelter Begleiter verdienen; die Beförderungsbereitschaft - das nur als Tipp für interessierte Passagiere - leidet jedoch, wenn der Gefallen allzu offensiv eingefordert wird: "Müssen wir jetzt echt ein Taxi nehmen oder kann noch jemand fahren?"
Das Alkoholproblem von Nicht-Trinkern ist ein Imageproblem. Gut, man kann darauf verweisen, dass auch Donald Trump, Kim Kardashian und Oliver Pocher keinen Tropfen anrühren, aber so richtig bringt einen das auch nicht aus der Defensive.
Die Erfahrung lehrt so einiges
Dabei ist es durchaus eine Leistung des Abstinenten, seine Umwelt und seine Mitmenschen ohne Alkohol zu ertragen. Besucht man eine Nachtlesung alternativer Wiener Lyriker in einem notdürftig ausgeräumten Müllkeller, nimmt man im Gegensatz zu absolut allen anderen Anwesenden sowohl den bestialischen Müllgestank als auch die nicht minder abscheuliche Lyrik in ganzer Tiefe wahr. Immerhin: Im Laufe einer Asketen-Karriere hat man gelernt, sich von Zusammenrottungen fernzuhalten, die allein die schnellstmögliche Herbeiführung eines Vollrauschs zum Ziel haben.
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Mit dem Wissen von heute würde man also vielleicht nicht mehr mitmachen, was man in der Fußball-A-Klasse unter "Trainingslager im Bayerischen Wald" versteht; genau wie man inzwischen ein Gespür entwickelt hat, wann man zwischen Goldener Bar und Holy Home diskret zum Fahrrad abbiegen sollte. Ab und an verlässt einen das Gespür aber auch: Man wäre einst natürlich nicht vor angeschickerten Liberalen aus der Bar des Stuttgarter Maritim-Hotels geflohen, hätte man geahnt, dass Rainer Brüderle gleich über das Dekolleté einer Journalistenkollegin referiert.
Häufig spricht also viel für dabeibleiben. Die Camouflage ist da ein gutes Mittel, die eigene Gaudi zu erhöhen und zugleich das Misstrauen der Trinker zu überwinden: einfach so tun, als wäre man selbst so was von knülle. Das klappt sogar im Epizentrum des Suffes, in einem Bierzelt auf dem Oktoberfest. Spätestens von 20 Uhr an sind alle anderen eh derart hinüber, dass eine Mass Apfelschorle als Bier durchgeht. Von 22 Uhr an kommt man sogar mit einer Mass Spezi durch. "Was saffst na da?", fragt der Banknachbar. "Des is a Dunkles", behauptet man listig. "Eam schaug da o, der safft an Superbock", plärrt der Nachbar dann respektvoll über den Tisch. Die ganz hohe Kunst ist es, dieses Ding mit Kamillentee durchzuziehen, aber das hat außer Edmund Stoiber noch keiner gebracht.
Erste kleine Weisheit nach zwei Jahrzehnten ohne Alkohol: Man muss das Leben als großes Schauspiel begreifen. Natürlich gewinnt kein Gespräch ernsthaft an Niveau (höchstens an Offenheit) dadurch, dass einer oder mehrere Teilnehmer angesoffen sind, auch wenn das jenen Teilnehmern immer exakt so vorkommt. Aber der Unterhaltungswert wächst für beide Seiten, wenn man sich furchtlos und schmerzfrei auf den Debattenton einlässt. Schreit einem ein Betrunkener "Alter, geiler Abend!" ins Ohr, empfiehlt es sich, im Gegenzug nicht die unerforschten Potenziale des Abends zu analysieren, sondern zurückzubrüllen: "Leck mich, Alter, so was von geil!" Bestenfalls entfalten Gespräche mit Betrunkenen dann eine ganz eigene Poesie.
Erfüllend ist es im Rahmen der Camouflage-Strategie auch, über die Jahre an seinem Lallen zu arbeiten, die Zungenbewegungen zu automatisieren, und dann bei einer mäßig besinnlichen Weihnachtsfeier zu merken: Das ist es jetzt, das perfekte Lallen. Häkchen drunter! Handwerklich hilfreich ist dabei der Kollektivrausch, der auch den Nüchternen erfasst. Das Phänomen lässt sich wissenschaftlich mit einem Foto von mir beim "Fliegerlied" auf der Wiesn belegen, ein Zeitdokument, von dem ich mir sehr wünschte, man könnte es mit Alkohol erklären.