Süddeutsche Zeitung

Leben im Plattenbau:Plattenland

An Hochhaussiedlungen wird immer wieder ihre Monotonie kritisiert. Dabei ist ihr Inneres hochindividuell. Ein Fotograf hat die Berliner Gropiusstadt erkundet.

Von Lukas Fischer (Fotos) und Kathleen Hildebrand (Text)

Wer selbst im Plattenbau aufgewachsen ist, in einer jener dicht bebauten Hochhaussiedlungen an den Rändern der Städte, muss später im Leben oft erst verstehen lernen, dass die Großsiedlung als modernes Ghetto gilt. Als Ort, an dem nur menschenunwürdiges Leben möglich ist. Ein grauer, monotoner Hort der Hässlichkeit.

Für Kinder spielt es nämlich erst einmal gar keine Rolle, ob außen am Haus Waschbeton hängt oder ein klassizistisches Stuckmedaillon. Man findet es praktisch, dass man in den Wohnungen seiner Schulfreunde gleich weiß, wo das Klo ist, weil alle Familien auf einem von zwei, vielleicht drei verschiedenen Grundrissen wohnen. Und man lernt die Etagen im Treppenhaus an vielen kleinen Merkmalen zu unterscheiden. An der Farbe der Fußabtreter. Am Metall, aus dem das Klingelschild gemacht ist. Am Schuhregal mit dem Trockenblumenstrauß oben drauf. Wenn Gleichförmigkeit, ja vielleicht sogar Monotonie die Norm ist, fängt man an, sich an minimalen Abweichungen zu orientieren. Wenn man es nicht anders kennt, ist das nicht deprimierend.

Lukas Fischer ist nicht im Plattenbau aufgewachsen. Trotzdem rührt die Faszination des Fotografen für Hochhaus-Landschaften aus seiner Kindheit. "Ich komme aus einem idyllischen Dörfchen bei Hannover", sagt er. "Meine Familie hat in einem Fachwerkhaus gewohnt. Aber auf dem Weg zur Schule kam ich jeden Tag am Ihme-Zentrum vorbei, einer riesengroßen Hochhausburg. Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wohl wäre, dort zu leben."

Eine Mischung aus Staunen und Grusel war das. Fremd und befremdlich. Wie lebt man in einem so gewaltigen Haus, mit einer solchen Masse von Menschen um einen herum? Die Frage hat Lukas Fischer nie ganz losgelassen. Als er 2011 einen Fotojob in der Berliner Gropiusstadt erledigte, zwischen einigen der höchsten Wohnhäuser Berlins, packte sie ihn wieder. Lukas Fischer suchte die Antwort auf die Frage von damals. Er begann, die Gropiusstädter zu fotografieren.

Der Stadtteil südlich von Neukölln, genau an der Grenze des früheren West-Berlin, ist nicht irgendeine Plattenbausiedlung. Der Bauhausgründer, Architekt und Gestalter Walter Gropius war Anfang der Sechzigerjahre mit den Plänen für eine Siedlung beauftragt worden. Sie sollte 14 500 Menschen Wohnraum bieten - aber auch Licht, Luft, Sonne und Grünflächen. Seine Entwürfe knüpften an die von Bruno Taut an, der mit seiner Berliner Hufeisensiedlung nebenan eine Architektur mit möglichst menschlichen Dimensionen geschaffen hatte. Das hieß: mit möglichst wenigen Hochhäusern.

Es kam anders. Kurz vor Baubeginn ließ Walter Ulbricht die Mauer durch Berlin bauen. Das Flächenwachstum von West-Berlin fand damit eine sehr physische Grenze - man brauchte mehr zusätzlichen Wohnraum als gedacht. In der Gropiusstadt, damals hieß sie noch Britz-Buckow-Rudow, sollten nun 19 000 Wohnungen gebaut werden. Die Pläne wurden geändert, die Gebäude mussten höher werden. Sie wurden auch: weniger abwechslungsreich. Walter Gropius war tief enttäuscht. "Einheit in der Vielfalt" hatte er sich für seine Siedlung gewünscht, "nicht langweilige Monotonie". So steht es in einem Brief, den er 1963 an den Berliner Bausenator schickte. Ob er sich darüber gefreut hätte, dass er 1972 bei der Neubenennung der Siedlung posthum ihr Namenspate wurde, so, wie sie schließlich gebaut wurde? Wohl kaum.

Monotonie hin oder her, die Leute kamen trotzdem. Als Mitte der Sechzigerjahre die ersten Mieter einzogen, waren sie glücklich über den Komfort, den die neuen, modernen Häuser boten. Das Ehepaar Burmeister, das Lukas Fischer für seine Fotoreportage zu Hause besuchte, gehörte zu den ersten Bewohnern der Gropiusstadt. Für sie bedeutete der Umzug: raus aus der Untermiete bei den Schwiegereltern. Endlich ein eigenes Klo. Und: kein Kohleschleppen mehr, weil es hier eine Zentralheizung gab.

Fischers Bilder von der Burmeister-Wohnung zeigen, in welch unerwarteter Form sich manche Plattenbaubewohner die stumme Gleichförmigkeit ihrer Wohnumgebung aneignen. Das Innere muss dem Außen der Rasterfassaden keineswegs entsprechen, hinter der Wohnungstür beginnt das eigene Stil-Reich. Im Fall der Burmeisters ist das ein Barockschlösschen mit Stofftapeten, Biedermeiermobiliar und schweren, curryfarbenen Samtvorhängen. Ein Interieur, bei dem wohl niemand an die berühmteste Gropiusstadt-Bewohnerin denkt, deren Familie eine Klientin von Herrn Burmeister war, einem pensionierten Gerichtsvollzieher: Christiane F. Ihre Lebensbeichte verfestigte den Ruf der Siedlung als sozialen Brennpunkt, den die Siedlung in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu Recht hatte.

Das ist heute anders. Die Kriminalitätsrate des Viertels entspricht dem Berliner Durchschnitt. In der Gropiusstadt leben vor allem alte Menschen, russische Spätaussiedler, arabischstämmige Familien. Ein Quartiersmanagement versucht, den Status des Viertels zu verbessern. "Offensichtlichen Drogenhandel und benutzte Spritzen im Hauseingang, das sehe ich in Neukölln viel öfter als in der Gropiusstadt", sagt Lukas Fischer.

Armut aber, die gibt es. In der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, die sich eine alleinerziehende Mutter mit ihren drei Töchtern teilt, geht ein Riss durch die Wohnzimmerwand. Links rosa, rechts Naturstein: Die Jüngste hat hier ihren eigenen Stil durchgesetzt, mit Herr-der-Ringe-Poster und Kuscheltieren, auch wenn es für sie kein eigenes Zimmer gibt.

Lukas Fischers Bilder zeigen eine Welt aus Beton, Balkonen und Grünflächen, die meist kleinbürgerlich ist, manchmal arm, aber keinesfalls verwahrlost. Mit der gut verdienenden Lifestyle-Avantgarde, die es nach der Jahrtausendwende cool fand, in den Plattenbau zu ziehen, haben seine Fotos nichts zu tun. Sie sind frei von jeder Ironie, und sie verherrlichen auch nicht die Architektur von Walter Gropius als Wohnriegel gewordene sozial-ästhetische Utopie. "Die Menschen, die ich in der Gropiusstadt getroffen habe - im Schachclub, auf den Straßen und im Jugendzentrum - leben gerne dort", sagt Lukas Fischer. "Ich habe niemanden getroffen, der weg will."

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Quelle:
SZ vom 31.12.2016
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