"Er hackte Zwiebeln und ein bisschen Knoblauch, dünstete beides in einer kleinen Eisenpfanne in Olivenöl glasig, öffnete eine Dose geschälte Tomaten, goss die Flüssigkeit in den Abguss und die Tomaten zischend über die Zwiebeln. (. . .) Im Wissen, dass Geruch, Geschmack und Musik Erinnerungen zurückbringen können (. . .) kochte er immer wieder Spaghetti Pomodoro." (Martin Suter: "Die Zeit, die Zeit")
Minimaler Aufwand, maximaler Genuss: Weil Pasta mit Tomatensoße so einfach geht, zuverlässig wohlige Erinnerungen an die Kindheit und den Italien-Urlaub hervorruft, gilt das Gericht als eines der beliebtesten der Welt. So erscheint es zumindest. Doch je länger man sich mit der Tomatensoße beschäftigt, desto mysteriöser kommt sie einem vor. Es ist wie mit dem Zaubertrank von Miraculix: Jeder kennt die wundersame Wirkung des Gebräus, aber kaum einer kann genau sagen, wie das Rezept eigentlich genau geht - was daran liegt, dass es gar kein eindeutiges Rezept gibt.
So vielfältig wie die italienische Küche sind auch die Variationen für Tomatensoßen. In Neapel verwendet man für einen Sugo nur Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Basilikum, in Norditalien werden oft Karotten und Sellerie mitgekocht, manchmal Basilikum. In Sizilien gibt es Variationen mit Zimt, Kapern und Rosinen. Der italophile Brite Jamie Oliver rät dazu, Chilischoten, Knoblauch und Oregano in Olivenöl anzudünsten, die Hamburger Köchin Cornelia Poletto warnt dagegen davor, Gewürze mit anzubraten, da sie die Soße bitter machen können.
Die einen schwören auf Dosentomaten, die anderen verwenden nur handgepflückte frische Bio-Pummarola von ausgewählten Südhängen. Diese mixen Sardellen und Parmesan in die Soße, jene schmecken sie mit Rotwein ab, matschen mit Mehlschwitze und Tomatenmark rum - oder kippen sogar Sahne in den Sugo.
Am besten redet man über die klassische Napoletana
Puristen wenden sich bei solchen Experimenten mit Grausen ab. Emanuele Capobianco, Koch im Münchner Lokal "Il piccolo Principe", schüttelt erstaunt den Kopf, wenn man ihn nach Sellerie, Karotten und Schlimmerem fragt. In den Sugo, den er in der kleinen Küche des Feinkostladens an der Kapuzinerstraße zubereitet, kommen ausschließlich Tomaten, Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln, wenig Salz, ein bisschen Pfeffer und Basilikum. Capobianco hält sich strikt an das Rezept seiner Chefin Francesca Gridelli, die das "Piccolo Principe" seit 24 Jahren zusammen mit ihrem Mann Tonino Gaudino betreibt, und genauso lange gelten in der Küche schon ihre schlichten Tomatensoßen-Regeln.
Wenn man überhaupt über "die italienische Tomatensoße" sprechen möchte, dann vielleicht am ehesten über die klassische Napoletana, die Mutter aller Tomatensoßen. Sie gilt als einfachste und wahrscheinlich ursprünglichste Form des Sugo. Die erste schriftliche Erwähnung eines Pastagerichts mit Tomatensoße stammt aus dem Jahr 1790, sie findet sich im Kochbuch "Apicio moderno" von Francesco Leonardi. Seit gut 200 Jahren gehören Nudeln mit pummarol 'n copp (im neapolitanischen Dialekt bedeutet das "mit Tomaten drauf") zu den Standardgerichten der Stadt.
Im "Silberlöffel", einer der wichtigsten Rezeptsammlungen der italienischen Küche, wurde die Kochanleitung für die Napoletana-Soße seit 1950 kaum geändert. Der "Silberlöffel" empfiehlt, Tomaten, Basilikum plus eine Prise Zucker in einen Topf zu werfen, Zwiebeln und Knoblauch werden nicht angebraten, sondern gekocht. Das Rezept klingt einfach, aber dennoch ist die Zubereitung eine Wissenschaft für sich. Italienische Köche können lange über die richtigen Tomaten, das beste Öl und die optimale Kochzeit debattieren.
Die Tomaten
Der Legende nach wurde die Tomate von Christoph Kolumbus nach Europa gebracht, in Italien war sie ab etwa 1600 bekannt, allerdings zunächst nur als Zierpflanze mit gelben, kirschgroßen Früchten (daher der Name pomo d'oro, "Goldapfel"). Unreife Tomaten enthalten Giftstoffe, lange kam niemand auf die Idee, sie zu essen. Für einen guten Sugo kommen nur ganz ausgereifte Tomaten infrage, bei denen sich Säure und Süße die Waage halten.
Im Supermarkt bekommt man frische Tomaten zwar ganzjährig, aber dann sind sie meistens in holländischen Gewächshäusern und spanischen Gemüsewachstumsfabriken produziert worden. "Holländische Ware kommt mir nicht in die Küche!" sagt Francesca Gridelli vom "Piccolo Principe". Emanuele Capobiancho verwendet für seinen Sugo frische Tomaten nur von Juli bis Anfang September, und zwar ausschließlich San Marzano-Tomaten aus Kampanien. Außerhalb dieses Zeitraums benutzt er San Marzano-Tomaten aus der Dose, die seien perfekt.
Die San Marzano hat eine längliche Form, sie wird auch als Flaschentomate bezeichnet. Wenn sie reif ist, wird sie schnell matschig, sie muss aufwendig von Hand gepflückt werden, deshalb ist sie für eine industrielle Verarbeitung nicht gut geeignet. Noch vor wenigen Jahren war die Sorte vom Aussterben bedroht, doch dank einer Initiative von Slow Food hat sie überlebt. Selbstverständlich gibt es auch andere Tomatensorten, mit denen man eine ordentliche Soße hinbekommt - aber italienische Restaurants auf der ganzen Welt bestellen am liebsten San Marzano aus der Gegend um Neapel.
Der Knoblauch
Quetschen? Hacken? Am Stück in die Pfanne? Jeder Koch und jede italienische Hausfrau hat eine eigene Knoblauch-Methode. Für die Napoletana wird die Knoblauchzehe üblicherweise geschält und am Stück in Olivenöl angedünstet. Sie darf nicht braun werden, sie soll nur das Aroma abgeben und wird nicht in der Soße mitgekocht. Und bloß nicht mit der Knoblauchpresse hantieren! "Das gibt der Soße einen bitteren Beigeschmack", warnt Francesca Gridelli. Für ein Kilo Tomaten verwendet sie drei Zehen, man kann auch mehr oder weniger nehmen, das ist Geschmackssache.
Die Zwiebeln
Bei den Zwiebeln ist die Auswahl nicht so groß wie bei den Tomatensorten, aber man kann den Geschmack des Sugo trotzdem entscheidend damit beeinflussen. Schalotten? Rote oder weiße Zwiebeln? Francesca Gridelli, die auf einem Bauernhof in den Abruzzen aufgewachsen ist, empfiehlt, weiße, große Gemüsezwiebeln zu verwenden. "Rote verfälschen die Farbe", sagt sie, "und die Gemüsezwiebel wird schön weich, das ist wichtig für die Konsistenz der Soße."
Emanuele Capobianco hackt die Zwiebeln sehr fein und gibt sie dann zum Knoblauch ins heiße Öl. Wenn die Zwiebelwürfel goldgelb und glasig sind, gibt er die Tomaten dazu - in Stücken. Jamie Oliver empfiehlt in seinem Rezept, die Tomaten ganz zu lassen, damit die Kerne nicht mitkochen, sie könnten Bitterstoffe abgeben. Capobianco lässt die Kerne in der Soße und siebt sie auch nicht aus - und bisher hat sich noch keiner seiner Gäste darüber beschwert.
Die Würze
Deutsche Hobbyköche neigen dazu, ihre Soßen mit allen Gewürzen zu traktieren, die das Küchenregal hergibt. Die Tomatensoße wird so lange mit Oregano und Thymian, Herbes de Provence, Gewürzsalzen und anderen seltsamen Zusätzen verfremdet, bis der Tomatengeschmack tot ist. Alles unnötig, sagt Emanuele Capobianco. Er nimmt eine Handvoll frischen Basilikum, zerrupft das Grünzeug grob und wirft es mit den Stielen in den Sugo. Dazu ein bisschen Salz und Pfeffer aus der Mühle, fertig. Mehr braucht es nicht. Die Soße soll ja nach Tomaten schmecken und nicht nach einem Querschnitt des gesammelten Gewürzsortiments.
Die Kochzeit
Martin Suter lässt die Titelfigur seines Romans "Die Zeit, die Zeit" jeden Tag eine Tomatensoße kochen, übrigens eine perfekte Napoletana, und man verrät nicht zu viel, wenn man feststellt, dass der Buchtitel auch etwas über die Tomatensoße aussagt. Zeit ist sowohl in Suters Roman als auch beim Kochen von Tomaten ein entscheidender Faktor. Gut Sugo will Weile haben. Theoretisch kann man eine Tomatensoße ruckizucki kochen, in zehn, fünfzehn Minuten ist das Gemüse gar. Aber je länger der Sugo brodelt, desto dickflüssiger gerät seine Konsistenz und desto intensiver der Geschmack. Capobianco lässt die Soße gut eineinhalb Stunden leise köcheln, dann hat sie die gewünschte Qualität.
Das gewisse Etwas
Also: San Marzano-Tomaten, hochwertiges Olivenöl, Zwiebeln, Knoblauch, etwas Zeit - und alles wird gut? "Im Prinzip schon", sagt Francesca Gridelli, "aber dann fehlt noch. . . etwas." Beim Stichwort "etwas" malt sie mit den Händen eine wolkige Geste in die Luft. Es sei dieses gewisse Etwas, das einen guten Sugo von einem fantastischen Sugo unterscheidet. Was ist dieses Etwas, und wo kann man es kaufen, frisch oder in Dosen?
Zum ersten Mal ist Francesca Gridelli ratlos, auch Koch Capobianco weiß keine Antwort. Gridelli erklärt es so: "Ich könnte einen Sugo nach exakt dem gleichen Rezept und mit den gleichen Zutaten kochen wie meine Oma - und dennoch würde er irgendwie anders schmecken." Es gebe Gäste in ihrem Lokal, die würden herausschmecken, wer am Soßentopf stand, behauptet sie: "Wenn ich für Freunde und meine Familie koche, schmeckt es noch mal ein bisschen anders." Die allerbeste Tomatensoße der Welt mache ganz klar ihre Schwiegermutter. Warum? Wahrscheinlich liegt es an den Emotionen, die man beim Rühren und Abschmecken hat. Der italienische Spitzenkoch Massimo Bottura hat es so ausgedrückt: "Kochen ist ein Liebesakt."