Süddeutsche Zeitung

Bayerische Traditionsküche:Lebenslänglich Leberkäs

Das bayerische Wirtshaus "Rosi" wird sogar im Ausland für sein Essen gelobt, doch es steht in Zürich. Warum tut man sich in Bayern so schwer damit, die eigene Küche weiterzuentwickeln?

Von Patricia Bröhm

"Zweimal Eiersalat, zwei Kalbskopf, zwei Obazda! Let's go, guys!" Schon die Kommandos in der Küche lassen ahnen, dass das "Rosi" ein bayerisches Wirtshaus ganz eigener Art ist. Markus Stöckle, der Küchenchef hier, hat einen Hang zu Anglizismen, schließlich hat er lange bei Heston Blumenthal gearbeitet, dessen Drei-Sterne-Restaurant " The Fat Duck" bei London eine Pilgerstätte der modernistischen Küche ist. Ebenfalls von Blumenthal mitgebracht hat Stöckle die experimentelle Art, heimische Klassiker neu zu interpretieren. Seinen Küchenstil beschreibt er als "bayerisches Absurdistan", geprägt von seinen Kindheitstagen auf einem Allgäuer Bauernhof, seiner Faszination für historische Kochbücher und langjährigen Erfahrungen in der Spitzengastronomie. Stöckle hat auch Stationen bei Sergio Herman und Björn Frantzén absolviert. Der Niederländer und der Schwede gehören zu den einflussreichsten Köchen der europäischen Avantgarde.

Für seinen Obazda impft der 31-jährige Markus Stöckle Rahmfrischkäse vom nahen Bauernhof mit selbstgezüchtetem Penicillium Camemberti (ein Edelschimmelpilz), gibt Gewürze und braune Butter dazu - das Ergebnis ist frappanter Tiefgang. Der eigentlich biedere Eiersalat wird im Rosi mit Krabben und Kräuteremulsion zum dichten, aromatisch spannenden Gericht - als Inspiration dient ein altes Rezept vom Leibkoch Ludwigs II. Ein verblüffender Coup auch der "Arme Ritter", ebenfalls von jenem Johann Rottenhöfer inspiriert: Luftiges Sauerteigbrot wird unter Vakuum in einer Essenz aus reduziertem Noilly Prat, Trüffelsaft und Flusskrebsnage getränkt, goldbraun ausgebraten und mit Beinschinken sowie Venusmuscheln garniert.

So aufregend zeitgemäß, kreativ anspruchsvoll und vollmundig-süffig kann bayerische Küche sein? Ja, nur leider kocht Stöckle nicht in München, sondern in Zürich. Er habe beim Abschied aus London zwischen München und Zürich geschwankt, erzählt er. Attraktiver erschien ihm die Schweizer Metropole. Nicht nur weil seine Lebensgefährtin von dort stammt, sondern vor allem, weil ihn die deutsche "Geiz ist geil"-Mentalität abschreckte: "Die Schweizer sind beim Essen viel offener und auch bereit, für gute Küche Geld auszugeben." Er behielt recht: Das Rosi im hipsterverdächtigen Stadtkreis 4 (Aussersihl) wurde mit seinem puristischen Interieur und der mit ironischen Zitaten gespickten Speisekarte aus dem Stand ein Erfolg.

Bleibt die Frage, warum eigentlich in München weit und breit keine neobayerische Küchenrevolution in Sicht ist? Wo sind die jungen Herdkünstler, die heimischer Tradition mit den Ideen und Techniken der modernen Spitzenküche neuen Charme verleihen? Der Zeitpunkt wäre schon vor Jahren da gewesen, als - ausgehend vom Kopenhagener Noma - weltweit ambitionierte Köche die eigenen kulinarischen Wurzeln wiederentdeckten und sie in zeitgemäßer Regionalität neu interpretierten. In der bayerischen Landeshauptstadt dagegen verharrt die Heimatküche zumeist auf mittlerem Wirtshausniveau, weiß-blauer Esprit mit handwerklichem Anspruch und auf Basis guter Produkte fehlt. Und kulinarisch interessierter Besuch von auswärts erntet in München auf die Frage, wo man denn mal so richtig gut bayerisch essen gehen könne, wahlweise Ratlosigkeit, entschuldigende Blicke oder freundliche Kompromissvorschläge.

Die heilige Dreifaltigkeit des bayerischen Gastes

Es ist ein offenes Geheimnis, dass in den Biergärten und Wirtshäusern der Stadt heute zum Großteil Convenience auf den Tisch kommt. Die vom langen Warmhalten ausgetrockneten Schweinsbraten, die Kartoffelknödel aus der Tüte und Fleischpflanzerl vom Fließband sollte man Besuchern jedenfalls nicht als kulinarische Heimatkunde zumuten. Klar, es gibt rühmliche Ausnahmen wie Ludwig Wallner in der "Gaststätte Großmarkthalle", der jeden Morgen um sechs Uhr in seiner weiß gekachelten Küche steht, um die Weißwürste tagesfrisch herzustellen. Oder Florian Lechner, der im "Paulaner" am Nockherberg auch mal ein gegrilltes Kalbsherz oder andere Vertreter der fast vergessenen Münchner Kronfleischküche auftischt, die traditionell Innereien frisch geschlachteter Tiere verarbeitete. Bei ihm kommen eher nicht die genreüblichen Billigprodukte auf den Tisch, sondern auch mal Geschmortes vom Poltinger Lamm, einer Zucht aus Niederbayern, die Spitzenköche in ganz Deutschland schätzen. Das Gros der Wirte aber scheitert regelmäßig an der heiligen Dreifaltigkeit des hiesigen Gästeanspruchs: Die Mass muss voll sein, die Portion auf dem Teller reichlich und der Preis bitt'schön klein.

Gute bayerische Küche ist in München heute eher folkloristisches Element der Fremdenverkehrswerbung als gastronomische Realität. Denn junge ambitionierte Köche streben auch hier nach den Sternen und die erreicht man nach landläufiger Meinung eher mit einem französisch, asiatisch oder wie auch immer international angehauchten Stil, wahlweise auch mit der gut klingenden, aber eher inhaltsleeren Floskel "neue deutsche Küche". Einzig im Restaurant "Schwarzreiter" des Hotels Vier Jahreszeiten versucht man sich an einer Spurensuche. Das marketingträchtige Konzept einer "Young Bavarian Cuisine" bleibt aber eher Lippenbekenntnis, was wohl nicht zuletzt an den Gegebenheiten eines großen Luxushotels mit internationaler Klientel liegt.

Immerhin: In dem merkwürdigen Vakuum an innovativ-anspruchsvoller heimischer Genusskultur sind gelegentliche Versuche zu beobachten, eine junge Wirtshauskultur mit Anspruch zu etablieren, vom "Xaver's" in der Rumfordstraße über die "Spezlwirtschaft" in Sendling und Haidhausen bis zum Obergiesinger "Dantler". Dort zeigen Jochen Kreppel und sein Team schon seit Jahren, wie man einer ehemaligen Eckkneipe neues Leben einhaucht und mit Ideen wie "Giesinger Ramen" (mit angeröstetem Wammerl, Shoyu und Soba-Nudeln) ein junges, genussaffines Publikum anzieht, das noch dazu eine anspruchsvolle Weinkarte mit Schwerpunkt deutscher Riesling goutiert.

In Kopenhagen bereiten sie beste Schweinsbratensemmeln zu

Aber sie bleiben Einzeltäter und ringen mit dem altbairischen Problem, immer wieder rechtfertigen zu müssen, warum Qualität einfach Geld kostet. Und dass beim Schweinsbraten nun mal Welten zwischen einem Tier aus industrieller Mast und einem glücklichen Schwein von den Herrmannsdorfer Landwerkstätten liegen. München hat eben nicht die experimentierfreudige Esskultur Kopenhagens, wo man an einem Streetfood-Stand am alten Industriehafen beglückt in einen Sauerteig-Bun mit dem gefühlt saftigsten Stück Schweinsbraten aller Zeiten beißt. Exzellent mariniert, über Holzkohle am Spieß geröstet und begleitet von milchsäurefermentiertem Rotkraut, knackigem Portulak und hausgemachter Estragonmayonnaise. Warum nur gibt es so etwas nicht auf dem Viktualienmarkt?

Die mangelnde Auseinandersetzung mit den eigenen kulinarischen Wurzeln ist ein Armutszeugnis für eine Stadt, die sich gern als kulinarische Metropole rühmt, seit (der Österreicher) Eckart Witzigmann im "Tantris" Anfang der 1970er-Jahre das sogenannte deutsche Küchenwunder einläutete. Damals war man im Übrigen auch in Sachen bayerische Küche schon mal weiter. In der Aufbruchstimmung jener Jahre war etwa der in französischen Spitzenküchen geprägte Otto Koch der Meinung, man müsse das dort Gelernte auf eigene Art umsetzen, dem Standort München gemäß. Von ihm stammten Inspirationen wie die Weißwurst von Meeresfrüchten oder die falsche Prinzregententorte (mit Pilzen), die vielfach kopiert wurden, aber als eigener bayerischer Weg in der nächsten Köchegeneration keine Fortsetzung fanden. Und selbst der junge Alfons Schuhbeck war, bevor er zum Platzlhirsch mutierte, ein engagierter Regionalist, der in Waging am See mit Spanferkelsalat auf bunten Rüben oder knusprigem Semmelrahmstrudel mit Birneneis Gäste für die eigene Kultur sensibilisieren wollte.

Von geradezu dadaesker Turbokreativität erscheint im Vergleich zur heutigen Münchner Fantasiebrache jener Johann Rottenhöfer, der 1858 ein Standardwerk der bürgerlichen Küche veröffentlichte und nun auch Markus Stöckle in Zürich inspiriert. Bei seinen Recherchen stieß der Rosi-Chef etwa auf eine Süßspeise, die der Kini-Leibkoch mit bayerischen Flusskrebsen und Süßwassermuscheln (die damals in Bayerns Seen und Flüssen noch vorkamen) zubereitete: "Ein Dessert mit Krustentieraromatik! Das ist reinste Avantgarde, ich kam mir vor wie in einem Quentin-Tarantino-Film!" Ein Rottenhöfer-Rezept von 1866, genannt "Das Kalb im Huhn", faszinierte den jungen Kreativkoch so, dass er es für die Gäste der Rosi adaptierte: Ein Stubenküken wird von allen Knochen befreit, in Buttermilch mariniert, dann mit Kalbsfarce gefüllt, wieder zugenäht und dank ausgeklügelter Niedrigtemperaturmethode zu ungeahnter Zartheit gegart. Das ist große Kochkunst, handwerklich, küchentechnisch und gedanklich.

Während München also weiter auf einen Rottenhöfer des 21. Jahrhunderts wartet, genießt Zürich Stöckles innovative kulinarische Selbstfindung: "Wir haben keine Angst davor, als ambitioniertes Team 'nur' bayerisch zu kochen. Ein Schweinsbraten wird immer mein Herz berühren."

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