Süddeutsche Zeitung

Kitzbühel:Der Sehnsuchtsort wohlhabender Südpreußen

Skirennen, Polo, Pelzmäntel: In Kitzbühel ist der Luxus gewachsene Infrastruktur. Ein Lebensgefühl, das viele anlockt, das sich aber nur sehr wenige Auswärtige wirklich leisten können. Ein Besuch.

Von Max Scharnigg

Gott, war das früher schön. Runter von der Autobahn bei Kufstein Süd, dann langsam bis zehn zählen, und schon ging es den Eiberg hoch. Das waren, von München kommend, die ersten richtigen Felsen, da gab es auf einmal Wildwasser und Serpentinen und am Straßenrand Familienväter, die mit Schneeketten und durchdrehenden Reifen kämpften. Weil damals die Autos eben noch Autos und keine Geländewagen waren und die Mittelstreifen auf der Straße noch gelb. Es war eigentlich wie eine Prüfung, man musste den Eiberg schaffen, dann war plötzlich alles erhaben. Dann war man in den Bergen, wie es die Erwachsenen nannten, in einem kleinen Land namens Tirol.

Links neben der Straße öffnete der Wilde Kaiser seine Flanke, die sich dem Kind als Muster eines ernsthaften Bergs einbrennen sollte. Und da oben, riefen die Eltern, die Gruttenhütte! Hat man sie je wirklich gesehen? Etwas leichter waren die Schilder an der Straße zu identifizieren, auf denen Dinge standen, von denen man nie gehört hatte: Stroh-Rum, Speck-Discount, Stanglwirt. Direkt gegenüber vom Stangl ging die Abkürzung, durch den Wald über Oberndorf und am Hartsteinwerk vorbei. Es war wie das letzte Stück Streif, Hausbergkante quasi nur ohne Sprung in den Zielhang, aber immerhin war am Ortseingang ein Torbogen über der Straße. Und dann, dann war Kitzbühel.

Das alles ist heute noch genauso. Abgesehen eben von den gelben Mittelstreifen und der besseren Traktion der Autos auf dieser Strecke, die wie keine andere zum Münchner Lebensgefühl gehört. München - Kitzbühel, das klingt so vertraut wie Kaut-Bullinger oder Ochsenbraterei. Es ist jeden Winter der bevorzugte Trampelpfad aus der Stadt.

"Ja, das sind die Südpreußen", sagt Schuhmacher Herbert Haderer. Er meint die Münchner. Der Mann ist fast achtzig, seit sechzig Jahren nagelt er in Kitzbühel Schuhe zusammen. Von Hand, auf Maß und so stabil, wie man Schuhe eben macht, wenn draußen Berge sind. Der schmale Herr Haderer sitzt unter einem Haufen Schuhleisten, die an der Wand baumeln, die Namen darauf sind leider sehr klein geschrieben. Klar, die sogenannten Promis waren alle hier bei ihm, auch mehrfach, Stammkunden quasi. Aber er hat keine Lust, sich ausgiebig an sie zu erinnern. Erzählt lieber davon, dass die Rumänen ausgezeichnete Schuhmacher sind. Oder wie das war, als hier die Plastikskischuhe aufkamen, in den Siebzigerjahren. Eine richtige Revolution, sagt Haderer. Doch die kleinen Hersteller waren damit raus aus der Branche. In der Hand hält er einen sehr großen Halbschuh, an dem er gerade arbeitet, was Orthopädisches.

Knapp 50 Maklerbüros tummeln sich heute am Ort, bei etwa 8000 Einwohnern

Sein Ladengeschäft und die Werkstatt gehören zu einem der trutzigen alten Häuser der Kitzbühler Vorderstadt, die luftig an der Stadtmauer kleben, mit freiem Blick auf das Horn. Das ist der Hausberg, der einst mit einer riesigen, rot-weißen Antenne namensgerecht verunstaltet wurde. Zwei neue Lifte gibt es da oben, Sechser-Sessel, Zehner-Gondel. Und etwa dort, wo heute eine "Funslope mit Wallride" steht, stapfte vor 125 Jahren der spätere Bürgermeister Franz Reisch noch als Einziger im Schnee herum. Er hatte das Buch des Polarpioniers Fridtjof Nansen gelesen, "Auf Schneeschuhen durch Grönland", und sich neugierig eine solche Skiausrüstung aus Norwegen schicken lassen. Die Ski kamen, Reisch ging damit aufs Horn und fuhr hinunter. So wurde Kitzbühel von 1893 an zum Skiort. Sage noch einer was gegen den Versandhandel.

Schuster Haderer prüft mit einem Blick aus dem Fenster, wie der Schnee ist und ob viele Leut' auf den Pisten unterwegs sind. Es ist noch Vorsaison, sehr ruhig. Die beste Zeit, da sind sich alle einig. Da hat es schon Schnee und die berühmte Kitzbüheler Sonne hat es auch, von der kein Meteorologe so richtig sagen kann, warum sie hier so hartnäckig auftaucht. Von Weihnachten bis zum Hahnenkammrennen ist dann eher Ausnahmezustand, pistentechnisch. Er selbst, sagt Haderer, gehe sowieso seit jeher lieber mit den Ski selbst hinauf. Jeden zweiten Sonntag macht er so die Streif. Viele von den alten Einheimischen würden die Aufstiegshilfen vermeiden, die seien schließlich für die Fremden gebaut worden. Er meint Skilifte. Haderer spricht kaum Dialekt, aber daran liegt es nicht, dass seine nächsten Sätze so seltsam klar klingen. Sondern daran, dass sie niemand sonst bei diesem Besuch sagen wird. Dass es schon ganz schön viele Touristen gewesen sind in den letzten sechzig Jahren. Und ganz schön viel Verkehr in der Stadt ist und ganz schön viele Chalets ringsum aus den Hügeln gewachsen sind.

Die Ergebnisse dieses ewigen Almauftriebs sieht man in den Schaufenstern der Makler. Ein Berufsstand, der in Kitzbühel Orgien feiert. Knapp 50 Maklerbüros tummeln sich heute am Ort, bei etwa 8000 Einwohnern. Viele haben ihre Boutiquen in besten Lagen, und alle haben imposante Immobilien im Schaukasten: geschindelte Holzpaläste mit folkloristisch gestreiften Fensterläden und Namen wie "Der Alpenstern" (14,9 Mio.) oder "Residenz Sonnberg" (10,5 Mio.) Woher kommen diese Preise?

Von der Erreichbarkeit. Von der gewachsenen Luxusstruktur. Die Golfplätze im Sommer. Das Tennisturnier, das Schneepoloturnier. Von der Kunstschnee-Artillerie, die fast zweihundert Skitage im Jahr möglich macht. Und natürlich, die Hahnenkammabfahrt, das Spektakel schlechthin, das mit seinen Helden den Ort immer wieder verjüngt. Diese Argumente rappt Nicoletta Plumm im Stehen heraus. Seit 31 Jahren arbeite sie für das Tourismusamt, sie redet schnell, hat den Ort im Griff, kennt jeden. Das mit dem Verkehr stimme schon irgendwie, aber andererseits, in Kitz selbst bräuchte man eigentlich kein Auto mehr. Die Gondeln fahren direkt aus der Stadt, und beim Hahnenkammrennen hallt der Überschwang des Kommentators durch die engsten Gassen, so nah ist alles beinander. Frau Plumm betreut den Stammkunden-Club, den es seit über 40 Jahren hier gibt. Voraussetzung: zehn verbürgte Aufenthalte in Kitzbühel (sprich: Kitzbiachl). 8 000 stolze Mitglieder hat der Verein, manche mit Gams als Kühlerfigur, der amtierende Präsident wohnt in Bad Homburg. "Die Stammgäste sind unsere Botschafter in aller Welt", sagt Nicoletta Plumm. Ein einfacher Job, denn die Stadt ist eine gut geölte Marke. Wer heute "Kitz" sagt, erzeugt beim Zuhörer sofort eine Assoziationskette aus Streif und Anton aus Tirol, aus Knödel und Kaiserblick. Aber auch Pelzmantelpanik, wenn man die Nachnamen derjenigen hört, die auf einen, pardon, Zweitwohn-Kitz setzen: Horten, Schaeffler, Schrempp, Klatten. Wer hier einen Schneeball wirft, hat gute Chancen, einen deutschen Milliardär zu treffen.

Der Ort selbst ist jedenfalls seit Jahrzehnten sein bestes Produkt und sein Strichcode die Gams, die ist überall drauf. Bei Billa im Schaufenster steht Kitzbühel-Sekt, beim Juwelier Schroll eine Kitzbühel-Uhr ("Blau wie der Nachthimmel über der Gamsstadt"), im Sportgeschäft gibt's die Kitzbühel-Ski, daneben ist ein Boxspringbett im Schaufenster, mit Betthaupt "Mausefalle" und Matratze "Hahnenkamm" - also vermutlich felsenhart präpariert. Die Gams fährt zehntausendfach als Autoaufkleber durch München, sie gilt immer noch als der einzig adäquate Schmuck zu einem vierfachen Auspuff-Endrohr. Entworfen hat das wertvolle Tier der Kitzbüheler Künstler Alfons Walde, der beste Ski-Maler aller Zeiten. Auf seinen Gemälden liegt der Schnee dick wie Schlagsahne, Skifahrer und Hütten sind appetitlich sonnenverbrannt. Walde hat dem Ort vor hundert Jahren etwas verpasst, was man heute corporate identity nennen würde, ein dick aufgetragenes Idealbild. Es ist heute wertvoller denn je, weil es eine ruhigere, schönere Geschichte erzählt als: Hinterseer, Schwarzenegger, Audi, Audi, Audi.

Jemand hat mal gesagt, die Kitzbüheler Berge wären die Hamptons von München

Wenn man in der Altstadt die Augen so zukneift, dass die Schilder der Modelabels unscharf werden, sieht sie auch noch aus wie bei Walde: bunte hohe Häuser, eng zusammengedrängt, als müssten sie sich warmhalten. Einige davon gehören zum Hotel Tenne. Es gibt größere und teurere Hotels, aber die Tenne ist das Hotel, wenn man Kitzbühel sagt. Es ist ein verwinkeltes Gebäude mit niedrigen Decken. Innen hat es noch viel von diesem seltsamen Tiroler Stilcharme, der mit Geweih und Schmiedeeisen funktioniert. "Dieses Hotel muss ein bisschen knarzen", sagt Direktor Christoph Aicher. Er ist neu in Kitzbühel, hat vorher das Sheraton in Salzburg geleitet. Viele Gäste von den Festspielen trifft er hier mit Ski wieder, das ist lustig. Seit drei Monaten darf er das Hotel führen, das einst jeder Boulevardzeitung Beute versprach, weil alle einkehrten, die zwischen den Sailer Toni und die Schneider Romy passten.

An diesem Abend ruhen sich in der berühmten Bar aber nur die Kellner von ihrem Service aus, die Stühle stehen auf den Tischen. Glamourösen Nachtbetrieb gibt es nicht mehr, dafür Hochzeiten. Fotos von damals hängen noch an der Wand, die Partys steigen woanders. Viele der Tenne-Zimmer haben Streif-Blick, das ist hier wichtiger als die Quadratmeterzahl des Wellness-Bereichs. So kann man vom Balkon aus hinaufsehen bis zum urigen Sonnbühel, der "vermutlich ältesten Skihütte der Welt". In der sich die Gäste heute zwischen Katalanischem Hummersalat oder Tataki vom Bluefin-Thun entscheiden müssen. Die Tenne hat auch mal Franz Reisch gehört, dem Bürgermeister mit den Ski. Seit über fünfzig Jahren aber ist das Hotel im Besitz der Familie Volkhardt vom Bayerischen Hof in München. Wieder so eine direkte Lebenslinie zwischen Muc und Kitz.

Trotz allem, Kitzbühel ist familientauglicher als Gstaad. Und entspannter als St. Moritz. Auch billiger, wenn man nicht gerade die "Residenz Sonnberg" kaufen möchte. Ein Skipass am Horn, dem Nachbarberg des Hahnenkamm, kostet 40 Euro. Man hat beim Spaziergang immer noch das Gefühl, dass der Ort zu gemütlich ist für das gewaltige Echo, das sein Name auslöst. Außerdem gibt es noch ungewöhnlich viele engagierte Einheimische. "Die Kitzbüheler sind eben eigensinnig und stur", sagt Kaspar Frauenschuh. Seine Firma residiert in einer ehemaligen Skifabrik, hier wurden die ersten Kunststoffski hergestellt. Frauenschuh produziert Luxus-Skibekleidung, seiner Familie gehört auch die legendäre Sportboutique in der Altstadt.

Wie alle Kitzbüheler ist er mit der Gewissheit aufgewachsen, dass das Geld mit den Gästen anreist. Als Bub erlebte er im Laden die Filmstars der Sechzigerjahre, die Frauenschuh "richtige Stars" nennt. Weil sie den Glamour einer anderen Welt mitbrachten. Und so sichtbar waren. Heute kommen die Prominenten hinter getönten Scheiben an und verschwinden in den Garagen, die ihnen in den Fels gebaut wurden. Aber verstehen könne er trotzdem alle, die sich ein Plätzchen auf den Hängen der Bichlalm suchen, Stichwort gigantische Lebensqualität. Nur Verkäuferin findet Kaspar Frauenschuh neuerdings keine mehr für sein Geschäft. Das sei schwierig geworden. Und der Verkehr auf der Hauptstraße so dicht, dass sie nach Feierabend kaum vom Hof kämen. Sagt er und springt auf, er müsse jetzt kurz mit den Tourenski auf den Berg, das Wetter sei so bärig.

Am Abend leuchtet der Kalk des Wilden Kaiser dramatisch in der letzten Sonne. Dann leuchten nur noch die Scheinwerfer der SUVs, die nach München fahren, weil es mit dem Zweitwohnsitz noch nicht ganz geklappt hat. Jemand hat mal gesagt, die Kitzbüheler Berge wären die Hamptons von München. Es stimmt schon. Ohne Kitzbühel wäre das Münchnerische nicht komplett. Eine Stadt, die "work hard, play hard" als Mantra hat, braucht eben einen angemessenen Spielplatz.

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SZ vom 26.01.2019/pvn
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