Trendform Kaktus:Stichhaltiges Design

Trendform Kaktus: Poppige Ikone: Der Cactus von Studio Gufram.

Poppige Ikone: Der Cactus von Studio Gufram.

(Foto: gufram)

Pfeffermühlen, Sofas, Lautsprecher: Produktdesigner lassen sich von der Form des Kaktus immer wieder neu inspirieren.

Von Max Scharnigg

Als die Designer und Künstler Guido Drocco und Franco Mello im Jahr 1972 einen lebensgroßen Garderoben-Kaktus vorstellten, sorgte das in vielfacher Hinsicht für Aufregung. So grell, so viel Kunststoff! Und vor allem - so provokant! In weiten Teilen der formgebenden Branche herrschte damals noch Einigkeit, dass die Form der Funktion folgen müsse und poppige Ornamente oder gar Humor beim Produktdesign nichts verloren hätten.

Besonders die deutschen und skandinavischen Gestalter waren in dieser Hinsicht streng. In Italien aber hat sich, wohl auch unter dem Eindruck der bröckelnden Pracht ringsum, die Überzeugung erhalten, dass Design durchaus mehr leisten kann, als nur Nutzwert ins Haus zu bringen. Es darf auch Freude beim Betrachter auslösen oder Erstaunen, über die freche Aneignung von Farben und Formen. Außerdem hatte die mannshohe Nachbildung eines Carnegiea gigantea mit Stahlgerüst und Kunststoffhaut durchaus ihre funktionalen Aspekte als stummer Diener im Flur. Über die gewachsenen Arme sollte man Hut, Mäntel und Schal werfen, die dann von den angedeuteten Stachel-Noppen am Abrutschen gehindert wurden.

Kakteen sind das Gute-Laune-Dekor der Stunde

Naturform lässt sich also mit ein wenig Fantasie auch mit Funktion aufladen. Der "Cactus" für das Entree wurde prompt zu einem Kultobjekt des Siebzigerjahre-Designs, in dem sich die psychedelischen Strömungen der Epoche ebenso festmachen ließen wie Pop-Art-Anklänge und die kulminierende Kunststoff-Fröhlichkeit des italienischen Designs. So wird das Objekt auch bis heute in immer neuen Farbvarianten (zuletzt als sehr buntes Gewächs von Paul Smith) bei Gufram in Turin aufgelegt und ist damit wohl der Urahn des aktuellen Kaktustrends. Denn seit Kurzem finden sich die Stachelträger auch noch in anderen häuslichen Bereichen wieder: Auf Tapeten, Kinderbettwäsche, als Schlüsselanhänger, Handy-Schale oder als Anstecker. Was vor einigen Jahren die Flamingos waren, sind jetzt die Kakteen - das Gute-Laune-Dekor der Stunde!

Das ist nicht so verwunderlich, denn die echten Kakteen und Sukkulenten feiern ebenfalls seit einiger Zeit ein großes Comeback. Die Millennials haben sie in ihr Herz geschlossen beziehungsweise in ihre Zimmer und Instagram-Feeds gelassen. Jede Zeitgeist-Boutique musste zuletzt dickwülstige Sukkulenten aufbieten, damit sich die Zielgruppe willkommen fühlte. Woher die neue Kaktus-Faszination kommt, darüber wurde auf Blogs und Lifestyle-Plattformen viel spekuliert, und es lief immer ungefähr auf die gleiche Vermutung hinaus: Anspruchslos in der Haltung, wartungsarm, handlich und irgendwie individualistisch im Charakter ergeben Kakteen und Sukkulenten die idealen Mitbewohner der Gegenwart. Und wer in Job-, Wohn- oder Liebesdingen ohnehin eher nomadisch sozialisiert wurde, zu dem passt eben auch eine Wüstenpflanze. Außerdem können Kakteen bekanntlich richtig alt werden - minimale Pflege vorausgesetzt - und sind für die Generation Bindungsangst damit vielleicht auch so was wie der kleinstmögliche Lebenspartnerersatz, wenn auch nicht gerade kuscheltauglich.

Trendform Kaktus: Ein bisschen Mexiko auf dem Esstisch: formschöner Pfefferkaktus von Doiy.

Ein bisschen Mexiko auf dem Esstisch: formschöner Pfefferkaktus von Doiy.

(Foto: Doiy)

Abgesehen von den Armen und breiten Schultern der Carnegia giganteca, kann man auch an anderen Kakteen und Sukkulenten menschelnde Attribute finden. So ist zum Beispiel die Vielfalt ihrer fleischig-organischen Formen und Auswüchse interessant. Jeder Kaktus hat ja irgendwie ein eigenwilliges Gesicht und einen eher bodypositiven Körperbau, was man von spindeligen Tulpen nicht behaupten kann.

Dass sich diese sympathische Ausstrahlung auch auf Gegenstände in Kaktusform überträgt, davon scheinen heute manche Produktdesigner überzeugt, jedenfalls erhält der italienische Flur-Kaktus nach rund fünfzig Jahren jetzt allerorten Verstärkung. Besonders das spanische Lifestyle-Label Doiy ist ganz vernarrt in die Kaktusform - Pfeffermühlen, Kaffeetassen, kaktusgrüne Karaffen, Socken und Notizbücher findet man dort in eindeutig botanischer Form und mit Stacheln versehen. Beim Möbelhaus Kare gab es im letzten Sortiment einen Beistelltisch, getragen von einem lebensecht modellierten Kaktus, und das Kakteen-Sofa des Avantgarde-Studios Baleri ist gleich ganz aus fotorealistischen Kissen-Kakteen der Gattung Schwiegermuttersitz zusammengebaut worden, so dass man zum Hinsetzen wirklich Überwindung braucht.

Trendform Kaktus: Gemütlich? Das sehr realitische Kaktus-Sofa von Baleri Italia.

Gemütlich? Das sehr realitische Kaktus-Sofa von Baleri Italia.

(Foto: baleri italia)

Der unmittelbare Effekt dieser Kakteen-Designs ist dabei heute immer noch der gleiche wie damals: Die Grenzen zwischen Innenraum und Natur werden ein Stück weit aufgehoben. Aber auch die Grenzen zwischen Mitteleuropa und der Wüste Mexikos oder Arizonas. Denn beim Betrachter stellt sich ein gewisses Cancun-Gefühl ein, auch dafür stehen Kakteen: Tequila-Party, Cowboyhüte und ein marlboroartiges Retro-Freiheitsversprechen. Der Kaktus im Wohnzimmer ist also immer auch ein kleiner Fernwehspeicher.

Trendform Kaktus: Bitte nicht gießen: Studie für einen Smart Speaker von Jonas Dähnert.

Bitte nicht gießen: Studie für einen Smart Speaker von Jonas Dähnert.

(Foto: The Smart Cactus)

Der junge deutsche Industriedesigner Jonas Dähnert hat aus einer anderen Richtung zum Kaktus gefunden. Seine elegante Studie eines Smart Speakers sollte sich möglichst unaufgeregt in die Wohnungseinrichtung einfügen - da passte der allgegenwärtige Kaktus als Vorlage ganz gut. Erstaunlich ist dabei, wie modern das Naturdesign in diesem Kontext wirkt, denn die dicken Kaktusrippen lassen sich hier mit kraftvollem Sound ebenso assoziieren wie mit cool-maskuliner Technik. Noch interessanter - war der "Cactus" im Haus 1972 noch eine stachlige Provokation, taugt seine Form jetzt offenbar zum Gegenteil - als unaufälliges Tarnmuster.

Zur SZ-Startseite
Berliner Keramikkünstlerin für die Stil3 unten

"Power Pottery"
:Schöner als das Ideal

Die Keramikkünstlerin Viola Hänsel fertigt Vasen, die den weiblichen Körper abbilden - mit allen angeblichen Schwächen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: