Süddeutsche Zeitung

Kacheln:Deutsche Sauberkeit

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In vielen Städten hierzulande leben die Fünfzigerjahre an den Häusern bis heute weiter: Die Kachel ist ein Symbol des Wiederaufbaus. Eine Stilkunde.

Von Thomas Steinfeld

Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sitzt der Heimkehrer Hans Schnitzler, der Held in Heinrich Bölls Roman "Der Engel schwieg" aus den Jahren 1949/50, auf den Trümmern einer Kölner Badeanstalt. Um ihn herum liegt die Welt in Ruinen. Manche von ihnen sind so frisch, "als hinge der Atem der Bombe noch in der Luft". Aus anderen Ruinen wachsen schon Gras und sogar kleine Bäume. Doch einer Art von Gegenständen scheint die nahezu vollständige Zerstörung der Stadt nichts ausgemacht zu haben: den Kacheln. Dort, wo sie erhalten waren, in mehr oder minder großen Flächen, hatte sie der Regen der Tage zuvor "ganz sauber gewaschen". "Sie strahlten im Sonnenschein", findet Hans Schnitzler, und "glänzten in Unschuld". So eindrucksvoll scheint ihr Glanz nicht nur für den ehemaligen Soldaten, sondern auch für dessen Zeitgenossen gewesen zu sein, dass die Kachel zu einem der beliebtesten Materialien im Wiederaufbau Deutschlands wurde. Der Roman blieb damals unveröffentlicht, weil der Verlag keine Geschichten mehr drucken wollte, die von Krieg und Heimkehr handelten. Er erschien erst im Jahr 1992. Die Kachel aber machte Karriere.

Zwar währte ihre große Zeit nicht lange: von den späten Vierzigern bis in die frühen Sechziger. Während dieser Periode aber wucherte das Kachelwesen über das traditionell ihr zugehörige Territorium, über die Badezimmer, die Operationsräume und die Labors hinaus, um den westdeutschen Innenstädten den Charakter sanitärer Anlagen oder Schwimmbecken zu verleihen. Zahllos sind die mit einfachsten Mitteln erbauten mehrstöckigen Häuser in den deutschen Städten, an deren schlichtem Aufbau und niedrigen Geschosshöhen man nicht nur den Rationalismus der mittleren Moderne erkennt, sondern auch die Not, in kurzer Zeit und mit wenig Geld sehr viel Wohnraum schaffen zu müssen. "Ob man nach Hamburg kommt oder nach Düsseldorf, nach Stuttgart oder Frankfurt", heißt es in einer Reklameschrift jener Zeit, "in allen aus den Ruinen wiedererstandenen deutschen Städten beleben Beläge aus Mittel- oder Kleinmosaik das Bild der Straßen, wohltuend erhellend im düsteren und grauen Norden, strahlend in der Sonne des Südens." Allem Glanz zum Trotz: "Graue Architektur" nennt der Kultur- und Medienwissenschaftler Markus Krajewski diese Bauweise in einem kleinen Buch über die Kacheln der frühen Jahre, das, ergänzt um Bilder des Berliner Fotografen Christian Werner, Ende dieses Monats im Alfred Kröner Verlag erscheinen wird. "Grau" soll die Architektur auch heißen, weil sie von anonymen Baumeistern geschaffen wurde und ihre Bewohner in Anonymität verbirgt.

War es vor dem Krieg üblich gewesen, dass zum Beispiel Metzgereien ihre Räume mit Kacheln verkleideten, als praktisches Symbol ihrer hygienischen Ansprüche, so wanderten die Kacheln nun vom Erdgeschoss hinauf bis unter die Dachrinne. Mit ihnen wurde der Nassraum nach außen gewendet, pflegeleicht und nahezu unzerstörbar. Das geschah nicht nur in Weiß, sondern auch in Hellblau, in Beige und in Rosa, manchmal in kräftigen Erdfarben und, wenngleich sehr selten, sogar in Schwarz. Verkachelt wurde besonders oft im Westen der Republik, in Frankfurt und Umgebung, im Rheinland und im Ruhrgebiet. Warum es ausgerechnet dort geschah, ist schwierig zu ermitteln: Es mag daran liegen, dass die Städte dort besonders stark zerstört worden waren, aber auch daran, dass sich viel keramische Industrie in der Nähe befand - für Köln etwa gab es die Ludwig-Wessel-Werke in Bonn. Kamen jedenfalls tausend Deutsche noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit 67 Quadratmetern Wandfliesen pro Jahr aus, sagt die Statistik, brauchten sie Mitte der Fünfziger über 200 Quadratmeter, und ein großer Teil davon wurde für die Verkleidung von Fassaden benutzt. Im Jahr 1956 wurden, so teilte damals der Verband der deutschen Fliesenindustrie mit, mehr als elf Millionen Quadratmeter Wandfliesen hergestellt, vier Millionen mehr als nur drei Jahre zuvor - und das, obwohl Kieselkratzputz deutlich billiger war.

Mit Kacheln entstehen einfache, kontrollierbare Oberflächen, in handlichen, aber ins Unendliche erweiterbaren Flächen aus kleinen Quadraten in streng geometrischer Ausrichtung. Sie versiegeln nicht nur die Mauern, auf die sie gesetzt werden, sondern auch die Zeit. Sie sind porenfrei. Sie altern nicht. Sie behalten ihre hart glänzende Oberfläche. Deshalb gibt es in Deutschland noch heute Zehntausende verkachelter Häuser, Zeugen einer der bizarrsten Moden, die es je im Bauwesen gegeben haben dürfte und die bald nach ihrem Vergehen monströs wirkte: Eine "Wirklichkeit, die heute alle entsetzt", nannte Hiltrud Kier, später Stadtkonservatorin in Köln, schon im Jahr 1976 diese Architektur. Dabei hatte die verkachelte Fassade nur ein paar Jahre zuvor als "Begriff der Sauberkeit und Kultiviertheit" gegolten, wie Wilfriede Holzbach, Autorin des in den Fünfzigern beliebten "Fliesen-Taschenbuchs", mitgeteilt hatte. Und war es nicht die mit Platten aus Waschbeton verkleidete Mauer, die dann an die Stelle der verkachelten Fassade rückte?

"Bauformen des Gewissens" nennt Markus Krajewski, der an der Universität Basel lehrt, sein Buch, und mit diesem Titel ist es ihm ernst: Die Kachel ist für ihn ein Medium, eine "Bauform", in der eine Gesellschaft nicht nur ihre Ansprüche, sondern auch ihre Obsessionen dokumentiert. Die zu Keramik gewordenen fixen Ideen lauteten: Hygiene, sowohl im physischen wie im seelischen Sinn, Gemeingültigkeit, industrielle Produktion - und ewige Moderne. "Wer es sich nicht leisten konnte, sein Haus abzureißen und neu zu bauen, der schlug wenigstens den Stuck oder die Werksteinfassaden ab", berichtet Hiltrud Kier aus der verkachelten Zeit.

Mit der räumlichen Tiefe aber verschwand auch die Geschichte: Die plane, glatte Oberfläche ließ keine Ornamente, keine Sockel, keine Erker zu, oft nicht einmal Laibungen für die Fenster, und wenn es ausnahmsweise Balkons gab, wirkten sie, als hätte man sie an die Fassade geklebt. Und damit nicht genug: In den Häusern, in den Wohnräumen, setzte sich das Ideal der unbegrenzten Abwaschbarkeit fort, nicht nur in den Badezimmern und in den Küchen, sondern auch an Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen, deren fugenlose Oberflächen aus Hartlack und Kunststoffauflagen bestanden. Befleckte Seelen sollte es in solcher Umgebung nicht mehr geben.

Die Bilder im Buch schildern eine Stadt, die sich dieser Idee offenbar mit besonderer Inbrunst widmete, nämlich Köln. Christian Werners Fotografien erfüllen diese Aufgabe präzise und nüchtern, ohne einen Willen zur Entlarvung. Die Altstadt war in den Bombardements der Royal Air Force zu neunzig Prozent zerstört worden, in den Vorstädten waren drei Viertel der Bauten in Schutt und Asche versunken. Als die Trümmer abgeräumt worden waren, blieben Flächen zurück, auf denen sich auch die Einheimischen nicht mehr zurechtfanden, die aber dennoch jemandem gehörten, in genau umrissenen und im Kataster eingetragenen Grenzen. Durch einen Teil des Terrains wurden die mehrspurigen Straßen gezogen, die "Nord-Süd-Fahrt" zum Beispiel, in denen das Ideal der "autogerechten Stadt" verwirklicht wurde. Doch die meisten Bauten, die auf diesen leeren Arealen entstanden, sind überbaute, versiegelte Geschichte, die eine völlige Abwesenheit des architektonischen Gedächtnisses auf historischem Gelände inszenieren.

Weil sich in der Kachel nicht nur ein bauliches, sondern auch ein sittliches Programm verbirgt, wird ihr nicht erst der Verfall, sondern schon der Schmutz zum Problem. Aus ihm geht keine Patina hervor, nur Schäbigkeit. Noch schlimmer ist es, wenn Kacheln bersten. Dann ist auch ihr Anspruch auf Undurchdringlichkeit und Zeitlosigkeit gebrochen. Und fallen sie schließlich von der Wand, zum Beispiel, weil der Mörtel in den Fugen verwittert und Nässe hinter die Kachel vordringt, so hilft nur wenig: Ihre ursprüngliche Makellosigkeit hat sich in einen einzigen Makel verwandelt, den niemand mehr erhalten will, der aber, beständig, wie er ist, einfach stehen bleibt - es sei denn, man könnte ihn in seine ursprüngliche Makellosigkeit zurückversetzen. Manchmal geschieht so etwas. Denn auch die verkachelte Republik ist längst, ihrem Anspruch auf unendliche Dauer zum Trotz, zu einem Gegenstand für Denkmalpfleger geworden, genauso, wie es mit allen Spielarten des Designs, den jüngeren und den alten, geschieht.

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Quelle:
SZ vom 02.01.2016
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