Süddeutsche Zeitung

Johan Schloemann:Lebensklug

Gesellschaftskritische französische Theorieliteratur mit persönlicher Note - das Genre hat eine gute Presse in letzter Zeit und kann einem doch ziemlich auf die Nerven gehen. Vor allem, weil darin viel davon geredet wird, was sich alles ändern müsste in der Welt, aber wenig davon, wie. Das ist zwar auch in dem Buch "Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung" des Anthropologen Didier Fassin nicht anders. Aber jetzt, wo es behaglich, besinnlich und festlich werden soll, und wo gleichzeitig für arme, geplagte Menschen Spenden gesammelt werden, hat dieses Buch doch eine andere Dringlichkeit: weil es einen scharfen Blick auf das gesamte Verhältnis der gelungenen zur entrechteten Existenz wirft. Der Autor, der in Frankreich im Sozialwohnblock aufwuchs und heute einen renommierten Lehrstuhl in Princeton bekleidet, untersucht, "wie es sein kann, dass die abstrakte Wertschätzung des Lebens als höchstes Gut in den als demokratisch geltenden Gesellschaften nicht verhindert, dass die konkreten Leben unterschiedlich bewertet werden". Das Besondere dabei ist der Versuch, die Fragen der Lebensphilosophie, die Biologie und die soziale Ungleichheit zusammenzudenken. Geht es etwa bei den Flüchtlingen um die gesamte Würde der Person oder nur ums nackte Überleben? Was heißt eigentlich "Black lives matter?" Fassin verwebt die philosophische Diskussion mit eindringlichen Fallstudien. Nicht leicht, nicht behaglich zu lesen, aber wichtig. Suhrkamp, 191 Seiten, 25 Euro.

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Quelle:
SZ vom 02.12.2017
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