Architektur:Nichts wie weg

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Ikone mit Bullaugen: Der Nakagin Capsule Tower (Mitte) in Tokio ist seit Jahrzehnten eine Attraktion für Architekturfans. Jetzt wird das Bauwerk abgerissen. (Foto: Charly Triballeau /AFP)

Nach jahrelangem Widerstand wird in Tokio der berühmte Nakagin Capsule Tower abgerissen. Über den Umgang Japans mit ikonischer Baukunst.

Von Thomas Hahn, Tokio

Tatsuyuki Maeda wusste noch nicht viel von Zukunft und Vergänglichkeit, als er den Nakagin Capsule Tower zum ersten Mal sah. Er war ein Kind der Siebzigerjahre, das auf dem Rücksitz im Auto seiner Eltern saß. Die Fahrt ging von Saitama, wo sie wohnten, nach Tokio, in die Hauptstadt. Als sie das Geschäftsviertel Ginza passierten, sah er zwischen den zweistöckigen Holzhäusern dieses seltsame Gebäude aufragen. Es war grau und monströs, aber gleichzeitig verspielt und freundlich. Es schien aus hundert Bullaugen in verschiedene Richtungen zu schauen.

Es wurde zum Blickfang seines jungen Lebens, und es ließ ihn auch später nicht mehr los, als er in der Nachbarschaft als Marketing-Agent arbeitete. 2010 wurde er Besitzer einer Wohnung im Kapselturm, später auch Verwalter. Er schrieb darüber, er erzählte davon, er kämpfte dafür.

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Aber jetzt müssen Maeda, 55, und die anderen vom "Projekt zur Erhaltung und Rehabilitierung des Nakagin Capsule Towers" dem berühmten Werk des Architekten Kisho Kurokawa das letzte Geleit geben. Die Abrissarbeiter haben angefangen, das Gerüst aufzubauen. Spätestens im Dezember soll der Blickfang von Ginza weg sein. "Es ist ein bisschen traurig", sagt Tatsuyuki Maeda, Besitzer von insgesamt 15 Wohnkapseln im Turm.

Visionäre Idee: Die Bewohner ziehen samt Wohnkapsel von Stadt zu Stadt

Tatsächlich ist dieser Abriss nicht nur ein bisschen traurig, sondern ein markantes Beispiel dafür, dass man in Japan die Meisterwerke der heimischen Baukunst oft nicht richtig schätzt. Längst überragen den Kapselturm viele andere Hochhäuser im Bezirk Chuo, zu dem Ginza gehört. Trotzdem ist er nicht irgendein Hochhaus, sondern das Denkmal einer Idee: die Ikone des sogenannten Metabolismus, einer japanischen Architekturbewegung der Nachkriegszeit, nach der die Stadt ein sich stetig erneuernder Organismus sein soll.

Space-Age-Stil: Das Innere eines Wohnmoduls im Nakagin Capsule Tower, 1972 entworfen von dem Architekten Kisho Kurokawa. (Foto: Yoshikazu Tsuno /AFP)

1972 wurde der Kapselturm errichtet aus 140 Wohn- und Büroeinheiten in Containergröße, die man in zwei Kerntürmen aus Stahl mit elf beziehungsweise 13 Stockwerken verankerte. Kurokawa hatte damals die Vorstellung, dass an vielen Stellen des Landes solche Kerntürme stehen sollten, damit die Bewohner mit ihrer Kapsel von Stadt zu Stadt ziehen konnten. Eine visionäre Idee, wenn man an die heutigen "Digital Nomads" denkt. Dazu kam es nie. Die Neun-Quadratmeter-Einheiten mit den 1,30 Meter großen kreisrunden Fenstern im "Space Age"-Stil der Siebzigerjahre wurden kein Medium flexiblen Wohnens. Sie blieben, wo sie waren, als ein unverwechselbares Stück Tokio.

Und das muss jetzt weg? Ausgerechnet in einer Zeit, in der ständig von modularen Wohnformen und Tiny Houses die Rede ist? "Die Kultur, alte Gebäude zu bewahren, ist etwas schwach in Japan", erklärt Maeda.

Renovierungskosten? Spart man sich - und baut lieber um

Viele Beispiele in Tokio belegen das: 2015 wurde das alte Hotel Okura in Minato abgerissen, ein Meisterwerk des japanischen Modernismus; das neue Okura besteht aus zwei hohen verglasten Bauten, von denen einer 41 Stockwerke hat. 2020 kam die fast hundertjährige Fachwerkhalle des Bahnhofs Harajuku in Shibuya weg; die neue Bahnhofshalle steht seit 2016, ist geräumiger, aber ein verwechselbarer Klotz. Und jetzt fällt also der Kapselturm.

"Umbauen ist auch eine Art Kultur von uns", sagt Maeda. Wenn man Japans geografische Lage als Inselstaat im Pazifik bedenkt, kann man das verstehen. Es gibt viele Erdbeben und schwere Taifune. Die Zerstörung durch die Natur war immer schon ein Begleiter der Menschen hier. Dazu kommt die feuchte Hitze des Sommers, die die Bausubstanz angreift. Japans Häuser waren einst aus Holz und Papier, aus vergänglichem Material also, mit dem man leicht wieder etwas errichten konnte. Und man gewöhnte sich nicht zu sehr an das Bild der Städte.

Diese Mentalität hat überlebt. Teure Renovierungen spart man sich, wenn nicht ein Investor Eigeninitiative zeigt. Auch der Kapselturm hätte eine Renovierung nötig gehabt wegen Asbest, Baufälligkeit, Wasserschäden. Kurokawa hatte vorgesehen, dass die Kapseln nach 25 Jahren ausgetauscht werden. Aber das passierte nicht. Die meisten Besitzer waren schon 2007 der Meinung, dass der Turm einem neuen Apartmenthaus weichen sollte. Der Lehman-Schock verhinderte das Vorhaben.

Jetzt soll ein ganzer Wald weichen - dabei hat Tokio wenig Grün

Ab 2014 kämpften dann Tatsuyuki Maeda und andere Liebhaber um den Erhalt, sie organisierten Führungen, gaben Interviews, versuchten, Kapseln zu kaufen, die Abriss-Befürwortern gehörten. Die Renovierung einer einzigen Wohnkapsel hätte 20 Millionen Yen gekostet, umgerechnet fast 150 000 Euro. "Nicht alle Kapselbesitzer wollten das zahlen", so Maeda. Und die Metropolregierung half nicht. "Auf unseren schriftlichen Antrag kam die Antwort, dass es schwierig sei, Steuergeld für Privatbesitz auszugeben", sagt Maeda.

Acht Jahre lang kämpfte eine Initiative für den Erhalt des Kapselturms, jetzt wird er abgerissen. Die Arbeiten im Geschäftsviertel Ginza haben bereits begonnen. (Foto: Eugene Hoshiko/AP)

"Es scheint, dass japanischen Städten der Erhalt egal ist", sagt Rochelle Kopp, Unternehmensberaterin in Tokio und Wahljapanerin aus den USA. Gerade bekämpft sie eine weitere schlechte Idee. Tokios Metropolregierung hat vor Kurzem ihr Okay für das Bauprojekt einer Immobilienfirma in der Sport- und Parkanlage Meiji Jingu Gaien gegeben. Neue Geschäftshäuser sollen demnach im alten Äußeren Garten des Meiji-Schreins entstehen, dafür soll unter anderem ein Wäldchen mit knapp tausend Bäumen weichen - dabei hat Tokio ohnehin schon relativ wenig Grün.

"Ich war wie viele andere auch geschockt", sagt Rochelle Kopp. Die Informationspolitik der Behörden war nicht sehr bürgernah. Schnell setzte Rochelle Kopp eine Petition auf, die binnen zwei Wochen 50 000 Unterschriften hatte. Aber ob sich die Bauherren beeindrucken lassen?

Japans Gesetze sind nicht darauf ausgerichtet, Geschäfte zu bremsen

Rochelle Kopp kennt Japans Kultur des Umbaus. Dazu kommt aus ihrer Sicht: "Japan ist im Grunde überbebaut, es gibt nicht mehr viel Platz, gleichzeitig aber viele Baufirmen." Also stürzen die sich auf jede Ecke, an der Neubauten möglich sind. Ob dabei Bäume oder Ikonen fallen? Ob der Plan sinnvoll ist? Egal. Auch den Kapselturm-Abriss hat ein Investor übernommen.

"Es geht um Business-Gelegenheiten", sagt Kopp. Und Japans Gesetze sind nicht darauf ausgerichtet, den Geschäftsgeist auch mal zu bremsen. "Bis jetzt hat der Staat dafür keine richtigen Regeln", sagt Maeda.

Am Ende haben Maeda und die anderen dem Abriss des Kapselturms zugestimmt - unter der Bedingung, dass nicht alle Kapseln zerstört werden. Im Januar zogen die meisten verbliebenen Bewohner aus, ungefähr 20. Vor ein paar Wochen packten die letzten ihre Sachen. Aber der Abschied fällt schwer.

Die Abrissgegner sehen dem Gebäude beim Sterben zu

Am Ostersonntagabend umgibt das Gebäude schon eine weiße Absperrung. Dahinter ragt der Turm in seiner ganzen verschrobenen Pracht auf wie ein Stapel überdimensionierter Waschmaschinen. Ein paar Leute stehen drumherum und machen Fotos mit ihren Smartphones. Auch Maeda möchte den Turm so lange wie möglich betrachten. Mit drei anderen hat er eine kleine Wohnung gemietet, deren Fenster auf den Turm zeigt. Es wird ein bisschen so sein, als würden sie ihrem Lieblingsgebäude beim Sterben zusehen.

Immerhin, die Kurokawa-Idee ist ein Trost. "Normalerweise geschieht so ein Abriss ganz oder gar nicht", sagt Tatsuyuki Maeda, "aber hier ist es ein Zwischending." Museen im In- und Ausland haben schon angefragt, ob sie eine der Wohnkapseln erstehen können. Wenn der Turm weg ist, werden sie also auf Reisen gehen. So, wie es der Architekt Kisho Kurokawa immer wollte.

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