Interior:Lehrstuhl

Der Designer Konstantin Grcic hat über richtiges Sitzen für Schüler nachgedacht - und damit ein altes Unternehmen neu belebt.

Von Max Scharnigg

Der Po ist doch wahnsinnig schön geworden!" Während er das sagt, streichelt Konstantin Grcic zärtlich die Kehrseite eines Plastikstuhls. Der Stuhl erinnert an ein Wirbelsäulenmodell beim Orthopäden, mit seiner stark gebogenen Rückenlehne.

Es ist Möbelmesse in Mailand, Weltereignis für alles, was unter den Begriff häusliche Einrichtung fällt. Für den Münchner Designer Konstantin Grcic sind die fünf Tage hier aber auch unfreiwilliges Schaulaufen. Er gehört zu den wichtigsten Gestaltern der Welt, auf vielen Ständen hier stehen Entwürfe von ihm, und er kommt kaum durch einen Messegang, ohne um Autogramme gebeten, fotografiert oder von japanischen Designbloggern interviewt zu werden. Und so ist er eben auch mit einer halben Stunde Verspätung am Stand von Flötotto angekommen, dabei wollte er nur mal kurz aufs Klo.

Der schlichte Stand des Möbelherstellers aus Gütersloh ist beileibe nicht der spektakulärste in einer Halle, in der andere Marken ganze Terrassenlandschaften oder sakrale Lichttempel aufbauen. Und trotzdem ist er etwas Besonderes, weil hier nur ein einziges Produkt gezeigt wird. Ein paar Dutzend Exemplare eines Stuhles namens "Pro" stehen da, sauber angeordnet, wie in einem Klassenzimmer. Es gibt unterschiedliche Füße für den Stuhl, die Rückenlehne auf der einladend großen Sitzfläche ist aber immer gleich markant, ein großes S aus Polypropylen, das nicht nach Sitzkomfort aussieht. Nimmt man probeweise Platz, was Messebesucher im Sekundentakt tun, vergisst man aber die komische Lehne, weil sie sich im Rücken auflöst. Da ist nur ein leichtes Stützen an der richtigen Stelle, der Rest ist schwungvolles Sitzen, wenn es so was gibt.

Frederik Flötotto strahlt, wenn man versucht, dieses Sitzgefühl in Worte zu fassen. Im Grunde tut er seit drei Jahren nichts anderes, wenn es um den "Pro" geht, als strahlen und in Worte fassen. Seit eben die alte, kleine Firma und der berühmte Designer an diesem Projekt arbeiten, einem Projekt, das ganz bescheiden als Schulstuhl anfing.

Schulmöbel sind sozusagen die DNA von Flötotto, ganze Generationen von deutschen Hintern drückten eine Schulbank, die aus ihrer Produktion kam. Entscheidend dafür war, dass Fritz Flötotto in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein neues Holzformverfahren erfand, mit dem Sitzschalen verbogen und gepresst werden konnten, als wären sie aus Kunststoff. Mehr als 21 Millionen Stühle mit diesen sogenannten Pagholzsitzen wurden in den folgenden Jahrzehnten gepresst und verkauft. Der alte Flötotto war ein Bestseller, von Schülern tausendfach bekritzelt, von Hausmeistern ewiglich gestapelt. Abgesessen glänzte das verformte Holz immer noch in der Farbe reifer Kastanien.

Zusammen mit einem später eingeführten Modulsystem für Schränke und Regale erlangte das Familienunternehmen bis in die Achtzigerjahre große Bekanntheit. Dieser Erfolg wurde, um es gleich zu sagen, in den letzten 30 Jahren fast komplett verspielt. Flötotto machte Besitzerwechsel, Insolvenzen und Neustarts durch, und es sah bis 2007 eigentlich nicht danach aus, als würde die Marke mit ihrem angestaubten Charme in die Gegenwart finden.

Aber jetzt sind da eben dieser Stand in Mailand, der große Designer und sein Stuhl, der auf dem besten Weg ist, die Geschichte zu wiederholen. "Wahnsinnig intensiv, maximal pedantisch" sind die Wörter, die Frederik Flötotto zu der Zusammenarbeit mit Grcic einfallen. Und der bestätigt das, wenn er ganz von vorne berichtet. Wie grundsätzlich neu er alles denken wollte für diesen Stuhl. Wie sie zusammen durch Schulen tingelten, ganz kleine und ganz große, mit Lehrern, Verwaltern und ja, auch Hausmeistern sprachen. Wie sie neueste Ergonomie-Studien und solche von moderner Pädagogik filterten, bevor der Gestalter überhaupt die ersten Striche machte. "Ich war so lange nicht mehr in der Schule, alles ist anders. Im Unterricht ist nicht mehr nur Stillhalten gefragt, die Kinder sollen in Bewegung sitzen, haben nicht mehr nur Frontalunterricht, sondern Gruppenarbeit, benutzen an den Seitenwänden Whiteboards oder Displays. Und während so viel Schwung im Unterricht ist, sitzen sie auf den alten, schweren Stühlen", sagt Konstantin Grcic. Er arbeitete deswegen an einer Sitzfläche, die den Sitzenden genauso gerne aufnimmt wie freigibt, nie im Weg ist. Die Lehne schrumpfte auf ein Minimum, weil: "Kein Rücken braucht so eine breite gepolsterte Rückenlehne wie bei den alten Bürostühlen."

"Ich wollte, dass der Stuhl auch ein bisschen cool wird. Was ich cool finde, demoliere ich vielleicht nicht."

Leicht sollten die Stühle sein, für die Kinder und die Hausmeister und nicht zwicken, aber auch nicht gezwickt werden. "Ich wollte, dass der Stuhl auch ein bisschen cool wird. Was ich cool finde, demoliere ich vielleicht nicht", sagt Grcic. Beim Material planten Hersteller und Designer zunächst mit Pagholz - aus Traditionsgründen. Aber die dreidimensional verformte Kurve der Lehne, die dünn ausgeformte Sitzfläche mit dem, was Grcic den schönen Po nennt, das schaffte das Pagholz nicht richtig. Also begann die Suche nach einem Kunststoff, der ökologischen Ansprüchen ebenso genügte wie der strengen DIN 1729 für Möbel in Bildungseinrichtungen. Nicht einfach. Viele neue Öko-Kunststoffe sind noch nicht zertifiziert, unmöglich für ein Produkt, das von Steuergeld gekauft werden soll. Schließlich kamen sie auf die Idee, es mit reinen Polypropylen zu probieren. Frei von Glasfasern, die sonst zur Stabilität beigemischt werden und die später das Downcycling schwierig machen. Um trotzdem noch genug Halt für die kühne Lehne zu bekommen, besserte Grcic bei der Statik nach. Auf diese Weise funktionierte das vergleichsweise weiche Material; es machte den Stuhl insgesamt leichter, gemütlicher, günstiger. Freilich erst, nachdem Flötotto mit einer riskanten Investition die Voraussetzungen für die Kunststoffproduktion geschaffen hatte.

Dass sich dieses Wagnis auszahlen könnte, ahnten Konstantin Grcic und der Urenkel des Firmengründers vor drei Jahren, als sie in Köln die ersten "Pro"-Stühle auf der Wohnmöbelmesse vorstellten. Das schien ihnen ein besserer Präsentationsort zu sein als die Didacta, die eigentliche Messe für Schulzubehör. "Die Hersteller da haben den Schul-Kuchen unter sich verteilt, in jedem Land wird sowieso ein nationaler Hersteller protegiert", sagt Frederik Flötotto über die Aussichten, die sie sich als Quereinsteiger ausrechneten.

Offenbar war Köln genau das Richtige, denn das Publikum ließ sich auch ganz unpädagogisch begeistern, der Stuhl gefiel Architekten, Bauherren und jedem, der darauf Platz nahm. Seitdem läuft ein Märchenfilm, mit einem alten, etwas angestaubten Familienunternehmen und einem Zauberer aus München in den Hauptrollen. Finnische Schulen kauften den "Pro" genauso wie Einrichtungen in Abu Dhabi und Japan, die Jesuiten in Barcelona importierten ihn erst für sich und dann für neue Bauprojekte in Kolumbien. In Villach, Kuala Lumpur, Unterschleißheim und Hamburg sitzen Fachhochschüler, Studierende und Kinder heute auf ihm, aber auch die Architektenstars von Herzog &de Meuron, Gäste des Münchner Residenztheaters und Privatleute am Esstisch. Noch erstaunlicher als der internationale Erfolg ist die Wandlungsfähigkeit, die den Stuhl weit über die Schulmauern hinaus trägt.

"Wir hatten Glück. Es gibt nur wenige Produkte, die sich so interpretieren lassen, ohne schwächer zu werden.", sagt Grcic und schwenkt seinen Arm über die kleine Herde Stühle auf dem Stand. "Pro" in drehbar, mit Rollen, billig und zum Stapeln oder mit Armlehne, mit hochgezogener Seitenwand oder Holzfüßen, in Farbe, mit Polster - jeder ein eigener Stuhl, jeder ein stimmiger Entwurf. Nur den schönen Po, den haben alle gemeinsam.

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