Süddeutsche Zeitung

"Home Report":Weg mit dem Ballast

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Vom vertikalen Dorf bis zum McLiving: Die neue "Home Report"-Studie beleuchtet aktuelle Wohntrends. Ein Überblick.

Von Max Scharnigg

Wenn eine der großen Möbelmessen stattfindet, wird im Frühstücksfernsehen dazu gerne die Pauschalfrage gestellt: Wie wohnen wir morgen? Darauf aber sind die Möbelmessen eher schlechte Antwortgeber, denn dort versammeln sich Hersteller jeglichen Verfallsdatums mit ihrem kompletten Programm, was bedeutet: So ziemlich alle Stilrichtungen und jeder beliebige Trend ist in den Hallen abgebildet und die gezeigten Designs spiegeln nicht den Look der Stunde, sondern eher die Tops und Flops eines halben Jahrhunderts. Dazu kommt: Anders als die Mode unterliegt die private Wohnungseinrichtung oft ganz pragmatischen Aspekten und wird von den Käufern mit langfristiger Perspektive erworben. Eine Kommode ist eben kein Sommerkleid.

Auch wenn die jungen Wohnplattformen heute so tun, als wäre Möblierung Saisonsache - belastbare Trendbestimmungen sind in diesem Bereich schwierig. Bei der Frage, wie wir wohnen, sind Studien, Architektenbefragungen und aufwendige Konsumanalysen jedenfalls praxisnäher, wie etwa der alljährliche "Home Report", den das Team um Zukunftsforscherin Oona Horx-Strathern gerade wieder vorgelegt hat. In diesem gut hundertseitigen Kompendium versuchen die Forscher, Tendenzen für die heimischen vier Wänden abzubilden und wegweisende Architekturtrends zu benennen. Für das Jahr 2020 formuliert Horx-Strathern dabei drei Begriffe: Vertical Village, McLiving und Tidyism.

Der Begriff Vertical Village umreißt die Sehnsucht der Stadtbewohner nach einem neuen Heimatbegriff im urbanen Umfeld. Ein Bedürfnis, das den Megatrends unserer Zeit entspringt - Individualisierung, Mobilität und Urbanisierung. Der Trend zu nachbarschaftlichen Strukturen für die entwurzelten Individualisten in den Städten wird schon seit Jahren etwa in Coworking-Spaces deutlich, aber zum Beispiel auch mit dem Erfolg von Nachbarschafts-Apps. Das "vertikale Dorf" soll in diesem Zusammenhang das Gute, das mit dem Dorfleben assoziiert wird - sozialer Austausch, Augenhöhe mit allen und Geborgenheitsgefühl -, in ein urbanes Umfeld tragen. Da dort kein Platz für horizontale Annäherung via Gartenzaun ist, muss die Gemeinschaft eben vertikal funktionieren. Diese Idee ist in der Architektur eine alte Bekannte - schon Le Corbusier wollte etwa mit seiner spektakulären "Wohnmaschine" in Marseille die Infrastruktur einer Gemeinschaft in einem Gebäude versammeln. Wie zeitgemäß diese Idee heute umgesetzt wird, das machen viele aktuelle Vertical-Village-Projekte rund um den Globus deutlich. Die Studie zeigt etwa das "Sieben Stock Dorf" in Wien, einen 2013 fertiggestellten Wohnkomplex, in dem eine nachhaltige Form des Zusammenlebens erprobt wird - es gibt für die Bewohner dort Coworking-Räume, eine Bibliothek, Gästezimmer, Spielplätze für Kinder und Erwachsene (also Fitness, Sauna, etc.) und ein Café, zudem eine Gemeinschaftsküche. Mit diesen Angeboten und von der Architektur geschaffenen Begegnungsorten soll kommunaler Austausch im Gebäude ebenso möglich sein wie Privatsphäre.

Einen anderen Aspekt der Urbanisierung bündelt die Studie unter dem Kunstwort McLiving. Damit ist die gestiegene Nachfrage nach modularen, massenproduzierten oder auch mikrodimensionierten Häusern und Wohnungen gemeint. Die Enge und steigende Mietpreise erhöhen den Bedarf nach rasch realisiertem, veränderbaren und günstigen Lebensraum. In Großbritannien bietet etwa die Kaufhauskette John Lewis schon billige Wohnungsumbauten an. Ikea experimentiert seit einiger Zeit mit Mehrfamilienhäusern aus vorgefertigten Modulen, die schnell und günstig errichtet sind. Lebensmitteldiscounter denken auch hierzulande darüber nach, den Platz über ihren Hallen oder Parkplätzen zu nachträglichem Wohnraum zu entwickeln. Wohnen bei Aldi? Die Not in den Metropolen wäre groß genug.

Innerhalb der Wohnung nährt die Raumknappheit weiterhin den Wunsch nach Minimalismus und Entrümpelung. Nach Marie Kondos Aufräum-Blockbuster auf Netflix verbreiten heute viele "Cleanfluencer" wie Sophie Hinchliffe erfolgreich die Kunde von der äußeren Ordnung, die innere Ordnung bewirkt. Die "Home Report"-Autoren weisen in diesem Zusammenhang auf einen interessanten Aspekt hin: In den letzten Jahrzehnten sind die klassischen Stauräume weniger geworden. Dachböden wurden ausgebaut, Vorratskammern und andere Lagerorte werden zugunsten der Wohnräume weggelassen. Das erklärt den Siegeszug der Selfstorage-Anbieter, aber auch ein bisschen, warum wir uns so schwer tun, unsere Wohnung dauerhaft in einen achtsamen und "cleanen" Ort zu verwandeln.

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Quelle:
SZ vom 26.10.2019
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