Wenn im Frühjahr das kalifornische Pop-Festival Coachella mit einer Viertelmillion Besuchern über die Bühne geht, oder wenn Ende August in der Wüste von Nevada beim Burning-Man-Festival eine riesige Holzskulptur abgefackelt wird und man im "heiligen Kreis" kollektiv um sie herumtanzt, dann sind auch sie wieder am Start: die Blumen-Stirnbänder, die Walle-Walle-Kleider, die Batik-Shirts. Sie sind die Utensilien für den eskapistischen Freak-out, mit denen man ein bisschen von dem reinszeniert, was man Ende der Sechzigerjahre beim ersten Mal nicht miterlebt hat, weil man da noch nicht geboren war. Die Rede ist vom "Summer of Love" und dem Woodstock-Festival, bis heute Inbegriffe des gegenkulturellen Ausnahmezustands.
Warum verkleidet man sich im Jahr 2018 für einen Festivalbesuch als Hippie - und bezieht sich damit auf einen Stil, der zur Chiffre für alles Mögliche geworden ist, von der Songzeile "If you're going to San Francisco" über den LSD-Rausch bis zu freier Liebe und langen verfilzten Haaren? Vielleicht, weil er so gut beim temporären Ausstieg aus dem Alltag hilft.
Coachella:Auf zum Fashtival - darauf kommt es in Coachella an
Wer tritt beim Coachella-Festival eigentlich so auf dieses Jahr - Guns N'Roses? Egal. Es geht um Halsbänder und Häkeltops.
Vom Hippie-Stil ist in diesen Tagen viel die Rede, jetzt, wo 1968 fünfzig wird. Damals wollte man in eine friedlichere, gemeinschaftlichere Zukunft, der Stil dazu war Retro: das längst Abgelegte und möglichst Bohemistische wie alte viktorianische Kleider, kombiniert mit "ethnischen" Kleidungsstücken wie Mokassins, fransigen Wildlederwesten oder westafrikanischen Dashiki-Oberteilen. Die Hippies wollten möglichst weltoffen aussehen. Heute würde man dies als imperiale Geste beschreiben, als Aneignung marginalisierter Kulturen. Hippie, das war ein Look für den maximalen Drop-out. Er hat überall dort überlebt, wo es vielleicht nicht mehr in erster Linie um Kritik an Kapitalismus, Krieg, Atomwaffen, Autoritarismus und Prüderie geht, aber immer noch um temporäre Ausstiegsfantasien.
Chloé hat zu Coachella eine Rockband eingekleidet
Beim Coachella und Burning Man wird dieser Ausstieg ritualisiert. Die Normalität, in die man danach zurückkehrt, wird dadurch vielleicht gerade erst betont. Während die Bühnen und Zelte abgebaut werden, sitzt man längst - ohne sein Hippie-Outfit - wieder am Arbeitsplatz. Diese Form des sich Ausklinkens aus den Verhältnissen hat natürlich die Nachhaltigkeit eines Pappbechers von Starbucks. Aber ohne sie wäre der Rest des Jahres wahrscheinlich unerträglich.
So oder so, die Modewelt klinkt sich da gerne ein: Das Pariser Label Chloé etwa hat beim diesjährigen Coachella-Festival zum fünfzigsten Jahrestag von '68 die drei Schwestern von der Rockband Haim mit bunt flatternden Bohemien-Looks ausgestattet und mit ihnen auch gleich ein Werbevideo gedreht.
Die aktuelle Prêt-à-porter-Kollektion von Dior steht ganz im Zeichen des "aufregenden und kreativen Jahrs 1968", wie es in einem Text zur Kollektion auf der Dior-Website heißt. In der Kollektion gibt es Peace-Zeichen auf Strickpullovern, Miniröcke im Patchwork-Look, transparente Organza-Rüschenkleider, Regenbogenfarben, Makramee, Fransen. "Es war die Zeit der großen Projekte, eine kreative Zeit, und die Frauen haben sich selbst erfunden", zitiert der Text aus den Erinnerungen der legendären US- Vogue-Chefredakteurin Diana Vreeland.
Spätestens jetzt beschleicht einen ein Verdacht: Es geht hier gar nicht um 1968. Wenn man einmal genauer hinsieht, hatte der Hippie mit Achtundsechzig ja gar nicht viel zu tun. Der "Summer of Love" hat, um historisch genau zu sein, schon ein Jahr vorher stattgefunden, 1967, und nach diesem Sommer wurde der Hippie in San Francisco von den frühen Aktivisten in Haight-Ashbury sogar schon symbolisch begraben. Sie erkannten in den zahlreichen Neu-Hippies, die in dem Sommer hinzugekommen waren, Trittbrettfahrer ohne Ideale.
Gucci reimaginiert die Pariser Straßenrevolte
Das Woodstock-Festival mit Jimi Hendrix und Janis Joplin und mit seinen 400 000 Blumenkindern im Schlamm war erst im Jahr 1969. Das heißt, wenn in diesen Wochen das fünfzigste Jubiläum von 1968 gefeiert wird, müsste man noch einmal betonen, dass 1968 vor allem ein europäisches Ereignis war, in Westdeutschland angeführt von der Außerparlamentarischen Opposition und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Die "Enragés" in Paris, die erzürnten Studentinnen und Studenten, die im Mai für "Liberté, Égalite, Sexualité" auf die Barrikaden gingen: Waren das wirklich Blumenkinder?
Illustriert wird das Jubiläum jedenfalls gerne mit Hippies. Dabei war der Hippie-Stil 1968 in Europa noch gar nicht richtig angekommen. Blickt man auf die Schwarzweiß-Fotos von den Pariser Demonstrationen im Mai 1968, sieht man adrett gekleidete junge Menschen. Rollkragenpullis, Anzughosen, Blousons, Kurzhaarschnitte. Kein Makramee, keine Fransen, keine nackten Beine und Busen. Es scheint, dass die Achtundsechziger damals eher noch wie Existenzialisten aussahen, oder: wie hängen gebliebene Beatniks, also wie die jungen Amerikaner zehn Jahre früher.
In Paris schien die Antwort auf die Frage, was man Neues zum Protest tragen sollte, jedenfalls zu lauten: am besten Plakat. Die Proteste waren für die Mode dann vor allem zur Kulisse. Es gibt das berühmte Foto der Sängerin und damaligen Stilikone Françoise Hardy, wie sie am 15. Mai 1968 - auf dem Höhepunkt der Pariser Proteste und Demonstrationen - auf der Place de l'Opéra posiert. Sie trägt ein kurzes Kleidchen des Designers Paco Rabanne, zusammengedrahtet aus diamantenbesetzten Goldplättchen, mit viel durchscheinender Haut. Hardy verkörpert hier Alien, Astronautin, Wesen der Zukunft - eine revolutionär neue Frau. Die Menschen im Hintergrund schauen aber, als fänden sie dieses Frauenbild etwas abgehoben. Protest und Mode scheinen sich hier gegenüberzustehen.
Dabei war die Pariser Mode 1968, rückblickend betrachtet, gar nicht so weit von den Zielen der Achtundsechziger entfernt, zumindest was die Bestrebungen in Bezug auf mehr Demokratie und die Emanzipation der Frau angeht. Pierre Cardin, der zusammen mit André Courrèges und dem bereits erwähnten Paco Rabanne zur sogenannten Pariser Space-Age-Trinität gezählt wird, zeigte 1968 kurze Kleider in Kombination mit langen schwarzen Vinylstiefeln und -Handschuhen. Sexy, aber nicht nackt und schon gar nicht Retro, sondern optimistisch in die Zukunft blickend.
Er habe mit seiner Prêt-à-porter-Mode, die viel günstiger war als Haute Couture, eine Garderobe für die moderne, berufstätige Frau entwerfen wollen, sagte Cardin, "so einfach und beweglich wie möglich. Bei mir gab es keine hohen Hacken, keine Hüte mit riesigen Krempen oder ausladende, steife Röcke. Meine Mode hatte nichts klassisch Damenhaftes".
In Deutschland eröffnete 1968 Jil Sander ihre erste Boutique in Hamburg und begann, ihre eigenen Entwürfe zu verkaufen. Sie wollte weg von der alten eingeschnürten und aufgerüschten Weiblichkeit: "Die Schnitte der Damenmode erschienen mir damals generell problematisch, weil sie Frauen auf altmodische Art als fraulich typisierten", sagt sie. Sander entwarf ihre Mode für die selbständige Frau, nicht für das "hübsch ausstaffierte Fräulein".
Waren Pierre Cardin und Jil Sander Achtundsechziger? Nein. Aber sie haben, mehr als der Hippie, dazu beigetragen, langfristig ein emanzipiertes Frauenbild zu prägen. Der Hippie-Style ist heute nur noch Verkleidung, er wird zu Festivals und Jubiläen aufgetragen. Währenddessen sind die Mode-Ideen von Cardin und Sander in den Alltag diffundiert. Den Männern ist modisch aus der Zeit weniger geblieben. Sie müssen heute nicht mehr unbedingt Krawatte tragen und dürfen lange Haare haben. Das würde man aber nicht mehr automatisch mit dem Geist der späten Sechzigerjahre in Verbindung bringen - auch Skater und Heavy-Metal-Fans sind heute langhaarig.
In der aktuellen Mode ist der fünfzigste Jahrestag von 1968 vor allem eine willkommene Gelegenheit, die alten Klischees zu verkaufen. Siehe die Werbeaktion von Chloé beim Coachella-Festival oder die Dior-Kollektion für Herbst 2018. Ein wenig raffinierter ist da die aktuelle Werbekampagne von Gucci. Sie trägt den Titel #guccidanslesrues, also: Gucci raus auf die Straßen! Es geht hier um die Re-Inszenierung der Pariser Proteste von 1968, ergänzt um den Hashtag, jene digitale Funktion, über die sich die heutige Generation zu Demonstrationen und Festivals verabredet, online wie offline.
Dass die Revolte bei Gucci ein bisschen teuer ist, nun gut, dafür ist das Schwarzweiß der #guccidanslesrues-Kampagne historisch getreu. Die Mode ist es nicht: eine Mischung aus Pariser Situationismus und Existenzialismus, kalifornischem Hippietum und noch ein bisschen früher Hip-Hop-Kultur aus New York. So ziehen die Gucci-Studenten zur Kundgebung: blumige Stirnbänder, Fransenjacken, Stars-and-Stripes-Motive, schwarze Rollkragenpullover, Baseballkappen. Alles, was in den USA und in Europa mal jung und unangepasst war, oder eben immer noch ist.
Warum lässt sich so ein transatlantisch frei zusammenfantasierter Protest-Mix auch 2018 noch gut als junger Traum vermarkten? Vermutlich, weil viele der Versprechen von 1968 auch fünfzig Jahre später noch nicht eingelöst sind.