Süddeutsche Zeitung

Österreich:Wo die Gasthöfe noch florieren

Vielerorts sterben die Gasthäuser. Im Bregenzerwald dagegen gibt es Dörfer mit bis zu acht Lokalen. Was machen sie anders? Ein Besuch.

Von Titus Arnu

Knarrende Dielen, schiefe Holzdecken, Ölgemälde an den Wänden: Im "Hirschen" atmet jedes Detail Geschichte. An einem Schrank in der Stube kann man die Zahl 1755 lesen - das Jahr, in dem das Gasthaus gebaut wurde. Die Holzschindeln an der Fassade sind im Laufe der Jahre fast schwarz geworden. Veraltet und verstaubt wirkt hier trotzdem kaum etwas. Auf der Speisekarte stehen zwar auch Klassiker wie Wiener Schnitzel und Kässpätzle. Aber Chefkoch Jonathan Burger sorgt erst einmal für eine sauer-fruchtige Überraschung: Als ersten Gang serviert er rohe Forelle mit Holunder-Chili-Marinade, mariniertem Spargel und Holunderblüten.

Fast alle der 105 Plätze des Restaurants sind besetzt, die Mehrheit der Gäste hat sich gegen die Klassiker und für "Chef's Choice" entschieden, das Überraschungsmenü mit vier bis sechs Gängen. Mit seinem auffällig tätowierten rechten Arm und dem Ziegenbart sieht Jonathan Burger aus wie ein Berliner Hipster-Koch, aber wenn er die Gerichte ansagt, hört man sofort, dass er aus der Region kommt, wie die meisten Zutaten seiner Gerichte: "Kchartoffln vom Vetterhof in Luschtenau, Kchartoffelmiso und Petersilkchrem". Küchenchef Jonathan Burger und Gastgeber Peter Fetz, beide knapp 30 Jahre alt, haben das altehrwürdige Gasthaus im Herbst 2017 übernommen, behutsam modernisiert und das Kulturprogramm aufgepeppt - getreu dem Motto des Hauses: "Jung seit 1755". Fetz führt den Schwarzenberger Familienbetrieb in zehnter Generation.

In Bayern existiert in gut einem Viertel der Gemeinden kein Gasthaus mehr

Schwarzenberg ist ein fast unwirklich hübsches Dorf im österreichischen Bregenzerwald mit einer bemerkenswerten kulinarischen Kultur. Der Ort hat nur 1800 Einwohner, aber es gibt acht gastronomische Betriebe - zwei Gourmet-Restaurants ("Hirschen" und "Alte Mühle"), vier gutbürgerliche Gasthöfe ("Adler", "Mesnerstüble", "Ochsen", "Zur Buche"), eine Pizzeria und ein Café. Dazu kommen acht Hütten und Berggasthöfe in der näheren Umgebung. Doch wie ist diese Vielfalt zu erklären? Während anderswo das Dorfgasthaus ausstirbt, scheinen die Schwarzenberger eine Zauberformel gegen den Schwund gefunden zu haben. In anderen kleinen Gemeinden der Region ist es ähnlich. Hittisau: 2000 Einwohner, sechs Gasthäuser. Bezau: 2000 Einwohner, acht Gasthäuser. Bizau: 1100 Einwohner, vier Gasthäuser.

In Bayern existiert in gut einem Viertel der 2200 Gemeinden kein Gasthaus mehr, wie der Lehrstuhl für Kulturgeografie der Universität Eichstätt-Ingolstadt schon vor Jahren ermittelt hat. Auch Gegenden, in denen der Tourismus eine Rolle spielt, sind von Schließungen betroffen. Und auch im kulinarisch traditionell starken Südwesten Deutschlands sieht es nicht viel besser aus. Vielerorts machen klassische Lokale dicht, weil die Gäste ausbleiben oder weil die Nachkommen der Wirte andere Pläne haben. Stattdessen breiten sich Pizzerien, China-Restaurants und Kebab-Buden aus. Im Bregenzerwald dagegen gibt es fast ein Überangebot an Gasthöfen, man fragt sich also, wie das zustande kommt.

In Schwarzenberg hat es zunächst einmal historische Gründe, dass dort so viele Gasthäuser eröffneten: Früher führte die Hauptverkehrsroute vom Rheintal in den Bregenzerwald über den 1140 Meter hohen Losenpass nach Schwarzenberg, der Ort war zu Zeiten, als man noch mit Pferd und Kutsche reiste, eine wichtige Tagesetappe. Heute gibt es einen Straßentunnel, kaum einer muss über den Pass, und Schwarzenberg liegt im Windschatten bekannterer touristischer Ziele wie Arlberg und Bodensee. Trotzdem blieb dem Ort das Schicksal vieler anderer Dörfer erspart. Das liegt auch am Engagement der Wirte.

Dorfwirtschaften sind soziale Orte - man trifft sich dort zum Essen und Trinken, zum Feiern und Trauern, zum Musizieren und Debattieren. Dorfgasthaus und Dorfleben bedingen einander. Wenn das eine stirbt, ist es mit dem anderen meist auch vorbei. In Schwarzenberg tut man einiges dafür, dass diese Liaison bestehen bleibt; dass die Wirtshäuser für ganz unterschiedliche Gäste attraktiv sind. Ein Beispiel ist das Konzept von Florian Messner. Der junge Wirt vom Adler, direkt neben dem Hirschen an der Hauptstraße gelegen, hat das Gasthaus ebenfalls 2017 übernommen, zusammen mit seinem Bruder Felix. Auf der Karte stehen die obligatorischen Kässpätzle und das Wiener Schnitzel, aber auch Thai-Curry, Dim Sum und Burger. "Mit herkömmlicher gutbürgerlicher Küche spricht man nur ältere Leute an", sagt Florian Messner, der auch jüngere in sein Lokal locken will. Allein von Touristen und Tagesgästen könne er nicht leben, wer sich dauerhaft halten wolle, müsse die Einheimischen für sich gewinnen.

Das gelingt ihm gut: Musik- und Sportvereine treffen sich regelmäßig im Adler zu Sitzungen, Stammgäste kommen nach dem Wandern oder vor Konzerten im nahen Angelika-Kauffmann-Saal. Auch Feinschmecker sprechen die Messners an, mit ambitionierten Gerichten wie "Kalbszunge glaciert, mit Saubohnen, Topinambur und Butterbröseln". Für jeden etwas - das Gasthaus Adler funktioniert so am besten.

Ein Wirt muss umdenken können, um erfolgreich zu bleiben, findet Emanuel Moosbrugger, Juniorchef des Gasthauses "Schwanen" im Nachbarort Bizau. Es ist ja alles anders geworden: "Früher sind die Leute nach der Kirche oder nach der Arbeit zum Stammtisch gekommen", sagt Moosbrugger, "politische Entscheidungen wurden im Wirtshaus getroffen, man hat dort immer die wichtigsten Neuigkeiten erfahren. Heute pflegen die Leute ihre Sozialkontakte über Whatsapp und Facebook, und die meisten Familien essen zu Hause." Moosbrugger hat zehn Jahre in der Spitzengastronomie in New York und San Francisco gearbeitet. Dann wollte er in sein Heimatdorf zurückkehren und das Gasthaus mit frischen Ideen in die Zukunft führen. "Es ist manchmal schwer, in so einem kleinen Dorf seine eigene Linie zu verfolgen", gibt er zu, "wir versuchen, bodenständige Küche auf hohem Niveau zu machen". Kräuter und Gemüse kommen aus dem eigenen Garten, Fleisch, Fisch und Käse aus der Region. Einige Gerichte auf der Karte sind nach Hildegard von Bingen zubereitet, alles ist biologisch und kreativ, etwa der gebeizte Saibling mit Tannenwipfel und Gurke oder das Dessert mit Heueis und Sig, einem Abfallprodukt der Käseherstellung, das karamellig-milchig schmeckt.

Schnitzel oder Curry, glacierte Kalbszunge oder Dim Sum - für jeden Gast ist etwas dabei

Vor dem Schwanen parken edle Oldtimer mit Schweizer Nummernschildern, Gruppen von Radlern kehren in den Biergarten ein, verschwitzte Wanderer bestellen Apfelstrudel. Die Region hat ein ideales Einzugsgebiet, das bis Zürich, Konstanz, Innsbruck und München reicht, es gibt florierende Handwerksbetriebe und gute Produzenten vor Ort. In Schwarzenberg stößt man überraschenderweise auf eine Kaffeerösterei und einen Automaten für Wagyu-Fleisch. Die Dörfer sind allein lebensfähig, Grundstücke sind so teuer wie im weiteren Umkreis von München. Dementsprechend zahlungskräftig ist das Publikum.

Die besten Adressen

Hotel Gasthof Hirschen Ambitionierte Küche in einem historischen Holzhaus. Hof 14, 6867 Schwarzenberg, www.hotel-hirschen-bregenzerwald.at

Gasthof Adler Kässpätzle, Curry, Burger: gemütliche Atmosphäre, gemischte Karte. Hof 15, 6867 Schwarzenberg, www.adler-schwarzenberg.at

Biohotel Schwanen Feine, saisonale Bio-Küche nach Hildegard von Bingen. Kirchdorf 77, 6874 Bizau, www.biohotel-schwanen.com

Ernele Kreativ, modern, ungezwungen: Felix Groß kocht nur mit regionalen Zutaten. Heideggen 311, 6952 Hittisau, www.schiff-hittisau.com

Hotel Gasthof Krone Ziegentopfen-Spinatknödel, Forellen-Nockerl, Topfenmousse: Regionale Küche auf höchstem Niveau. Am Platz 185, 6952 Hittisau, www.krone-hittisau.at

Schulhus Schweine-, Hühner- und Lammfleisch aus eigener Zucht, Beeren und Pilze aus dem Wald: Regionaler geht es nicht. Glatzegg 58, 6942 Krumbach, www.schulhus.at

Das erklärt den Erfolg der Dorfwirtschaften aber nur zum Teil. Es sind vor allem die jungen Gastronomen, die mit ihren Ideen für neues Leben in der Region sorgen. Wie gut das funktionieren kann, haben auch Antonie Metzler, Chefin des Hotels "Schiff" in Hittisau, und Felix Groß, Küchenchef des Restaurants "Ernele" gezeigt. Zum Schiff gehört schon lange ein Gourmetlokal, die "Wälder-Stube 1840" - ein vom Gault Millau mit zwei Hauben bewertetes Restaurant, in dem das Sieben-Gänge-Menü mit Weinbegleitung 150 Euro kostet. Um auch Leute anzusprechen, die gern in unkomplizierter Umgebung einfachere Gerichte genießen wollen, eröffneten die Metzlers das Ernele in einem modernen Anbau aus hellem Holz, benannt nach Oma Erna, die im Schiff seit 60 Jahren in der Küche steht.

Der junge Koch Felix Groß setzt hier auf regionale Küche und legere Atmosphäre. Er bringt die Forelle auf einem großen Holzbrett zum Tisch, zerlegt sie vor den Augen der Gäste und serviert frisches Frühlingsgemüse dazu. Nach dem Essen führt er in den Kräuter- und Gemüsegarten neben dem Hotel und erklärt mit zärtlichem Blick auf junge Karotten, Kohlrabi und Zucchini seine Küchenphilosophie: "beste Qualität, kürzeste Wege - und Respekt für die Produkte". Manchmal braucht Groß eineinhalb Stunden, um von zu Hause bis zu seinem Arbeitsplatz zu kommen, obwohl er ganz in der Nähe wohnt. Denn unterwegs holt er persönlich das Brot bei der Bäckerei ab, den Fisch beim Züchter, den Käse bei der Sennerei und das Kalbfleisch beim Bauern. So viel Hingabe schmeckt und spürt der Gast tatsächlich beim Essen. Vielleicht ist sie ja auch der wahre Grund für den Erfolg der Bregenzer Dorfgasthäuser.

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SZ vom 08.06.2019/eca
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