"Man will ja Hero sein." Also ein Held. Womöglich ein Superheld. Roland Kaiser, der 1952 als Ronald Keiler in großer Armut und verstörender Verlorenheit geboren wurde, sagt das. Er ist am 17. November Gast in der Talkshow bei Sandra Maischberger. Die Frage, warum er seine schwere Erkrankung den Fans jahrelang verschwiegen habe, warum er bis zum Umfallen immer nur weitergemacht habe, beantwortet er leise. Zugleich nach den Sternen greifend: "Man will ja Hero sein." Die anderen Diskussionsteilnehmer werden später mal kurz die Klappe halten, um einem Mann Respekt zu zollen, der außer Schlagersimplicissimus ("Alles ist möglich") auch viel Erhellendes zu bieten hat.
Santa Maria, denkt man sich - und kann den Schlagersänger nur bewundern für eine Aufrichtigkeit, die einen starken Kontrast bietet. Zum Beispiel zu Markus Söder, der in der gleichen Sendung bei Maischberger wieder mal in entmutigender Unablässigkeit das tut, was er am besten kann: herumsödern, also nach Leuten suchen, die an allem schuld, aber auf keinen Fall Söder sind. Roland Kaisers entwaffnender Auftritt macht deutlich, dass es der Gegenwart jedenfalls in der politischen Klasse an Heroen gebricht. An einer Heroik, deren Superkraft letztlich darin besteht, den eigenen Schwächen zu begegnen, um daraus Mut, aber auch Demut zu schöpfen.

Superman-Schöpfer:Brillant, visionär, obdachlos
Die beiden Erfinder von "Superman" bekamen für ihre Idee zur mit berühmtesten Comic-Figur 130 Dollar - zusammen. Eine großartige Graphic Novel erzählt, wie sie um ihren Erfolg betrogen wurden.
Kaiser konnte sich seinen eigenen Schwächen lange nicht stellen. Das gilt für die Krankheit wie für die in seinen Schlagern bestens dokumentierten Fehlbarkeiten, für die Sehnsüchte und Verwirrtheiten. Das gilt für die Ratlosigkeit eines Menschen, der immer der Tat zugeneigt war. Der auf die eigene Kraft vertrauen musste, um sich aus einer zur Adoption freigegebenen Existenz zu befreien: Vollwaise mit 15, die abgebrochene Volksschule, die Jobs im Supermarkt Meyer und im Autohaus. Wie gesagt: Santa Maria.
Kaisers Leben, das vom Findelkindkorb über den Supermarkt bis zur Starbühne und weiter zu Ehrungen aller Art reicht, Höhen und Tiefen auslotend, wäre in der Antike zwischen Prometheus und Pandora, Dädalus und Ikarus oder Orpheus und Eurydike auch nicht falsch angesiedelt. Es ist im Grunde Sagenmaterial. In diesem Fall hätte der Pfarrer und Gymnasialprofessor Gustav Schwab davon berichtet, der mit den "Sagen des klassischen Altertums" einen Klassiker der Jugendliteratur schuf. In drei Bänden sind die Heldengeschichten und Göttermythen zwischen 1838 und 1840 erstmals erschienen - in immer neuen Editionen und Übersetzungen gehen sie bis heute um die Welt.
Vom Trojanischen Pferd über den Ödipuskomplex bis zur Odyssee (auch im Weltraum des Stanley Kubrick): Bis heute leben Film, Literatur, Kunst, Theater und Musik auf einem einzigartigen Terrain, das sich bis zum Comic, zum Computerspiel und zur Popkultur erstreckt, von diesen Mythen. Das Wort "sagenhaft" ist absolut geboten. Geboren werden in diesem bizarren und grandiosen Reich der Behauptungen und Anmaßungen auch die Gründerväter und Gründermütter des heutigen Marvel-Universums der Superhelden.
Als Kind las man die Heldensagen mit der Taschenlampe unter der Bettdecke
Von Adam Warlock über Captain America und den silbernen Surfer bis zu Wasp alias Janet van Dyne: Es gibt für alles im Reich der Tragik und Heroik ein Propädeutikum. Wer in Schwabs Werk den Superkräften der Antike begegnet, ist gerüstet für die Gegenwart, die immer mehr Superhelden aus dem immer gleichen Stoff hervorbringt. Hollywood ist Haupterbe des schwäbischen Pfarrers. Früher hat man von der Tapferkeit des Perseus (heute der Name eines Unternehmens für Cybersicherheit) und der Gier des Midas (heute ein Anbieter von Schwimmbadtechnik) sowie der Rache der Medea (heute Modeaccessoires) mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen bis tief in die Nacht. Woraufhin man im Geschichtsunterricht gut schlafen konnte. Heute geht man ins Superhelden-Kino, um zu schlafen. Hollywood hat das einst große Erbe in Trump-Manier geschmälert. Aus dem Besonderen wurde das Banale.
Deshalb ist es gut, dass der Taschen-Verlag mit "Griechische Sagen" 47 Schwab-Erzählungen reanimiert. Von der Legende des Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt, woraufhin er in der Einöde des Kaukasus angekettet und von einem antivegan eingestellten Adler gefoltert wird (es geht echt auf die Leber), bis zu den zwölf Aufgaben des Herakles und Homers Odyssee: Das ganze Universum antiker Superhelden wird versammelt. Illustriert von 29 Künstlern, die zum Goldenen Zeitalter der Buchillustration gehören.
Die Neuauflage macht auch klar, woraus die antike Welt jenen Suspense bezieht, den Hollywood oft vermissen lässt: aus der Mehrdeutigkeit, Komplexität und Ambivalenz der handelnden Figuren. Der Unterschied zwischen dem Superhelden-Kino von heute und der Schwab-Welt ist so ähnlich wie der zwischen einer richtig guten Netflix-Serie und den öden Verdummisierungen, die das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen für Fernsehen hält.
Die Frage, warum wir uns überhaupt so für Superkräfte interessieren, hat übrigens die Philosophin Lisz Hirn in ihrer Schrift "Wer braucht Superhelden?" beantwortet. Sie zieht Parallelen zu einer Realität, in der sich verängstigte Gesellschaften nach starken Männern (leider oft) und starken Frauen (leider selten) sehnen.
Hirn sagt im Interview mit dem Spiegel: "Die modernen Superhelden haben im Gegensatz zu den klassischen Helden mit globalen Problemen, ökologischen Katastrophen und technologischen Herausforderungen zu kämpfen, da braucht es übermenschliche Superkräfte." Das gilt übrigens auch für die aktuelle Pandemie. Wobei immer komplexere Krisen mit immer simpleren Antworten einhergehen. Es ist der Antike zu danken, wenn man heute daran erinnert wird, dass man zwar immer Hero sein will. Aber auch oft daran scheitert. Andererseits: Alles ist möglich.