Für sie: Das brave Lätzchen
Diese Unschuld vom Lande begleitet uns seit Anfang dieses Jahres: der Pilgrim Collar, also ein großer, manchmal mit Spitze verzierter Kragen. Er ist das modische Accessoire du jour, und Kinder der Achtzigerjahre erfüllt er mit Entsetzen. Denn sie mussten so ein Exemplar bei festlichen Anlässen wie Weihnachten oder Einschulung über karierten Kleidern tragen. Der Kragen fühlte sich also immer an wie ein freiheitsbeschneidendes Lätzchen. Man konnte damit nicht auf Bäume klettern, und Schokolade essen auch nicht, das hätte den ganzen Look verdorben. Und wie bloß hielten die Pilgerinnen ihren sauber? Lady Diana trug den Kragen übrigens auch, kein Wunder, dass sie oft so traurig wirkte.
Millenials kennen dieses modische Trauma nicht. Sie tragen das Ding jetzt an der Bluse oder werfen es über Pullis. Zuerst sah man ihn bei Chanel, dann bei jüngeren Labels wie Ganni, jetzt gibt es ihn bei High-Street-Labels zu kaufen, und auch Gucci setzt auf die Zimmermädchen-Ästhetik. So ein Halsschmuck ist das Gegenteil von sexy. Sein Vorgänger, der kleine, enge Peter-Pan-Kragen, setzte mit seiner strengen Hochgeschlossenheit ja noch ein wenig Fantasie frei.
Aber von diesem Modell hier kann man das nicht sagen. Klar, in Zeiten von digitalen Zusammenkünften sind Kragen die beste Art, in einer Konferenz mit so etwas wie einem Outfit zu glänzen - das Zoomfenster ist schließlich klein. Aber warum kann man den digitalen Wow-Auftritt nicht mit den ebenfalls angesagten tiefen Herzausschnitten erledigen? Ach so, fast vergessen: Alles im Home-Office muss ja zumindest nach braver Arbeit aussehen.
Für ihn: Geflügel und Bindegewebe
Die Runways des großartigen Fashionlabels Loewe gehören zu denjenigen, bei denen man als Beobachter oft praktische Fantasie mitbringen muss, um sich die Outfits ins echte Leben zu übersetzen. Anders gesagt, diese Kreation hier gehört schon zu den tragbarsten Vorschlägen für den laufenden Winter, denn das grüne Kettennetz um die Hüfte könnte man ja vielleicht einfach weglassen?
Spaß beiseite - natürlich sind es vor allem Details und Tendenzen, die von diesen hochtrabenden Shows für die Modeprofis ausgehen. Zum Beispiel hinterlassen die vielen Krawatten bei Loewe diesmal das Gefühl, dass dieses alte Bindegewebe doch noch etwas Neues zu erzählen hat. Zumindest wenn es in Dialog mit Gockelhahn-Scherenschnitten auf dem Hemd steht, die ihrerseits irgendwie an alpine Volkskunst erinnern. Vielleicht ist aber auch nur die Art wegweisend, wie die Models ihre Krawatte jetzt in den extrabreiten Gürtel stecken mussten. Das ist ja eigentlich eine Unart, die man bisher nur noch bei überarbeiteten Vorgesetzten im mittleren Management kannte.
Zwar soll eine Krawatte in der richtigen Länge idealerweise knapp über den Hosenbund lappen, von Reinstecken wird aber tunlichst abgeraten. Denn das nährt nun mal den Eindruck, sie wäre viel zu lang, und beraubt sie zudem optisch natürlich ihrer baumelnden Leichtigkeit. Aber klar, wenn, wie im Falle Loewe, mit überlangen Hemdsärmeln und überlangen Gürteln bei den Outfits sowieso schon die extreme Vertikale betont wird, soll die Krawatte natürlich auch mitmachen. Und weil die Frage auf der Hand liegt: Ja, das Hemd gibt's auch mit Gänsen statt Hühnern.