Grillen:"Ist nicht schlimm, wenn es nicht ganz durch ist, oder?"

Grillen: Sobald es draußen wärmer wird, heizen die Deutschen der Luft gleich noch mehr ein: und zwar beim Grillen.

Sobald es draußen wärmer wird, heizen die Deutschen der Luft gleich noch mehr ein: und zwar beim Grillen.

(Foto: The Digital Marketing Collaboration / Unsplash)

Fleisch unter freiem Himmel zu brutzeln, könnte eine wunderbare Sache sein - wären da nicht die vielen Beilagen, der Qualm und überhaupt das ganze Drumherum. Neun Sätze, die zu jeder Grillparty gehören.

Von Max Scharnigg

"Die Würstchen sind dann schon mal fertig!"

Es ist vielleicht keine schulmedizinische Diagnose, aber es gibt ihn: den akuten Grillhunger. Er entsteht während der unseligen Frühphase jedes Grillabends, in der die Gäste noch auf eine Weise eintrudeln, wie es nur Gäste bei Grillabenden tun, und in der noch nicht gegrillt wird, aber alle nonstop rein und raus laufen und "Beilagen und Salate" an diverse Tische schleppen.

Aus irgendeinem Grund muss es beim Grillen viel mehr "Beilagen und Salate" als bei normalen Essen geben, sonst ist es nicht richtig. Zusätzlich wird körbeweise Brot aufgeboten und ein Bataillon halbvoller Soßenflaschen mit ungewisser Mindesthaltbarkeit. Vielleicht signalisiert der Kopf dem Magen angesichts dieser Mengen, dass das Essen bereits fertig sei. Nie jedenfalls macht Tischdecken hungriger, und nie klingt in der Folge dann ein Satz schlimmer als der des Grillmeisters, wonach es nämlich noch ein wenig dauere, man könne ruhig schon mal Salat essen.

Das macht man dann. Ist ja genug da. Erst kaut man verschämt auf einem halben Baguette herum. Dann probiert man den Kartoffelsalat und die Oliven. Dann drückt man sich probehalber einen Viertelliter Barbecuesoße in die Semmel. Gar nicht so übel! Es folgen Krautsalat und der obligatorische Klatsch aus Couscous, Quinoa und Linsen auf den Teller, der als exotischer Pflichtbeitrag dient. Dann noch einer der Muffins, die immer jemand zwischen die Salate mogelt. Dann ist man satt. Etwa an diesem Punkt taucht der Grillmeister auf und verkündet, dass es gleich mal mit den Würstchen losgehen könnte. Okay, dann nimmt man eben noch eines. Aus Höflichkeit. Aber Fleisch schafft man dann eher keines mehr. Und Grillgemüse gibt es auch noch? Puh.

"Klaus, jetzt iss auch du mal was!"

Gerüchten zufolge grillen 86 Prozent der Männer in Deutschland zumindest gelegentlich. Über die evolutionäre Nähe des Mannes zum Feuer wurde angesichts dieser Zahl schon viel nachgedacht. Tatsächlich besteht die eigentliche Kunst aber nicht im Ertragen der Hitze und im mutigen Umdrehen von speckummantelten Käsebruzzlern. Nein, was die Schürzenhelden wirklich auszeichnen würde, wäre, wenn sie mit ihrem Amt nicht den ganzen Abend Hektik verbreiten würden. Mehr Gelassenheit, Gentlemen!

Das Programm eines selbsternannten Grillmeisters sieht ja meistens so aus: In der Anzünd- und Qualmphase ist er unentwegt mit entflammen, pusten, in der Kohle stochern, nachfeuern, Bier öffnen, kleineren Löscharbeiten an der Vegetation und dem Auf- und Abbau diverser Zubehörteile an seinem Grill beschäftigt. Danach erledigt er so gestresst wie zerstreut die Logistik des Grillguts zwischen Küche und Garten, brüllt dabei unentwegt nach Zangen, Gabeln, Tellern, Alufolie und Bier. Er darf jetzt nicht angesprochen werden, weil er damit beschäftigt ist, mit dem Thermometer ins Fleisch zu pieken, als wäre es eine Dartscheibe, die Würstchen im Minutentakt zu wenden und die Auberginenzungen versehentlich ins Feuer rutschen zu lassen, was ihn noch hektischer macht.

Den Applaus für den ersten heil an den Tisch bugsierten Grillteller wischt er beiseite. Kommt noch mehr! Stets in Sorge um sein Grillgut wetzt er die nächste Stunde zwischen Rost und Gast hin und her und lässt dabei den Grilldeckel kesseln und kacheln, als wäre er eine Ein-Mann-Big-Band. Irgendwann schnappt er verschwitzt und verrußt im Stehen zwei grenzwertig verbrannte Würstchen und wieselt dann endlos um den Tisch im Versuch, die letzten Brocken an den Mann zu bringen. Es folgen Entsorgungs-, Reinigungs- und Verhüllperfomances, an deren Ende er völlig erledigt in den Gartenstuhl sinkt. Er möchte jetzt allein sein, um über das Erlebte nachzusinnen. Und vielleicht noch ein Bier.

"Jetzt wäre die Glut perfekt"

Eine Stunde nachdem alle satt sind und das übrig gebliebene Grillgut schon wieder in einer Tupperware verschwunden ist, schlendert der Gastgeber zufällig am Grill vorbei. Dort muss er feststellen, dass der von ihm ursprünglich angestrebte weiß-heiße Finalzustand seiner Kohle gerade eingetreten ist. Immer das Gleiche! Statt geduldig darauf zu warten, hat er sich von der Meute der Hungrigen zur Eile hinreißen lassen, hat den Tofu direkt flambiert und dem T-Bone-Steak Rußstreifen verpasst, die er bei Tisch mit Mühe als Röststreifen verkaufen konnte. Grillen ist eben eine Übung in Geduld, und den wahren Gentlemangenießer erkennt man daran, dass er erst dann zum Grill geht, wenn alle anderen schon fertig sind.

"Qualmt aber ganz schön"

Eine chinesische Forschergruppe hat kürzlich herausgefunden, dass im Grillrauch vorkommende krebserregende Stoffe durch die Haut intensiver aufgenommen werden als durchs Inhalieren. Auch Kleidung schütze nicht komplett vor der Aufnahme jener polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe schreiben Jia-Yong Lao von der Universitä Jinan und Kollegen in "Environmental Science & Technology". Sie empfehlen, Kleidung nach dem Grillen sofort zu wechseln und zu waschen - und am Grill Atemmasken zu tragen. Das bestätigt die vagen Befürchtungen einer Personengruppe, die sich bei jedem Grillereignis unweigerlich bildet: die Rauchflüchtlinge.

Kurioserweise sind es meistens die Gleichen, die im Winter bei der ersten Gelegenheit einen Schneeball ins Auge kriegen. Im Sommer ziehen sie Funken, fliegende Aschepartikel und Rauch magnetisch an, egal wo sie sich positionieren, und befinden sich in einer fortwährend kreisenden Fluchtbewegung rund um die Feuerstelle. Da hilft auch keine Beschwichtigung des Oberbefehlshabers am Grill, wonach es "nur am Anfang" so sei und "gleich besser" würde. Das Gemeine an allzu aufdringlichem Qualm ist nicht nur, dass er gemütliche Tischrunden schneller auflösen kann als verdorbenes Tiramisu, sondern dass er auch unangenehme Kompetenzfragen aufwirft: War die Kohle etwa feucht? Gibt's da eigentlich keinen Deckel? Brennen da etwa die Gemüsesticks von Tante Betty?

Grillen

Kann gemütliche Tischrunden schnell auflösen: nerviger Qualm.

(Foto: dpa)

"Gibt's noch ein Fleisch?"

Schon klar, die neue Grillkultur und ihre mediale Aufbereitung in Magazinen und Grillblogs hat alle zu Fleischexperten gemacht, es wird am Kamado-Grill mit Rindsbrust und Flanksteak hantiert, es werden Zuschnitte und Reifungsgrade diskutiert. Aber in der eigentlichen Hitze des Grillgefechts wird diese ganze Kennerschaft oft doch wieder relativiert. Dann wird aus Onglet und Skirtsteak, aus Färse und Iberico das gute alte: ein Fleisch! Das ist die universelle Maßeinheit für Outdoor-Ernährung und heute im Sprachgebrauch wichtiger denn je. Schließlich machen sich lauter andere Sachen auf dem Feuer breit, die nicht "ein Fleisch" sind. Sondern Grillkäse, St. Petersfisch oder Zucchini.

Die Enttäuschung darüber darf sich kein moderner Mensch anmerken lassen, aber trotzdem schwingt in der Frage immer viel Hoffnung mit: "Gibt's noch ein Fleisch?" Unausgesprochen bleibt der Nachsatz: "Oder muss ich noch einen Fenchelspieß essen?" Wie sehr es eine Verlegenheitsfloskel ist, merkt man auch daran, dass man meistens sieht, was es noch gibt, wenn man mit dem Teller zum Grill spaziert. Es ist also eher eine rhetorische Frage, so ähnlich wie das "Ist hier noch frei?" in der U-Bahn. Und alles andere als ein "Ja, klar!" ist, hier wie dort, eine Kränkung.

"Ist nicht schlimm, wenn es nicht ganz durch ist, oder?"

Das ist die eine Frage bei Tisch, die ganz schnell die Luft aus dem Vortrag über die Vorzüge des Keramikgrills oder die wenig bekannten Nachteile einer Gusseisen-Grillplatte lässt. Schon richtet sich die Aufmerksamkeit des Publikums auf den beanstandeten Übergang von Kotelettknochen zum Fleisch, der doch ein bisschen sehr rosig geraten ist. Gehört so, sagt der Verantwortliche mit der wackligen Überzeugung des Ex-Steinzeitmenschen und verschlingt als Übersprunghandlung seinen halbrohen Burger. Leider teilte das Uniklinikum Essen aber unlängst mit: Beim Verzehr von nicht ausreichend erhitztem Schweinefleisch droht eine unangenehme und im schlimmsten Fall gefährliche Infektion mit Hepatitis E. Schweinefleisch sollte auf dem Grill bei mindestens 70 Grad etwa 20 Minuten gebraten werden. Die Zahl der Hepatitis-E-Erkrankungen hat in den letzten Jahren in Deutschland deutlich zugenommen, beim Robert-Koch-Institut in Berlin wurden 2017 knapp 3000 Fälle gemeldet, etwa vier Mal mehr im Vergleich zu 2013. Aber hä, 20 Minuten bei 70 Grad? Da kann man ja gleich in der Küche bleiben und den Ofen anschalten!

"Mich hat irgendwas gestochen"

Es sei einmal gesagt: Das Beste am Grillen ist nicht das Essen, sondern dass es draußen stattfindet. Dabei ist egal, ob halb draußen auf der Terrasse oder richtig draußen am Flussufer. Man erobert sich für kurze Zeit einen ungewohnten Raum und nutzt ihn für etwas reichlich Verrücktes: Feuermachen und wehrloses Gemüse pfählen. Nie würde man sich ja einfach so auf die schlimme Hinterhof-Grasfläche setzen, aber man macht es wie selbstverständlich, sobald ein wackliger Grill dabei ist. Selbst der größte Ordnungsfanatiker muss improvisieren, und selbst der größte Misanthrop lädt zum Grillen noch ein paar wehrlose Mitmenschen ein, weil er weiß: Grillen ist ausreichend Unterhaltung für den ganzen Abend.

Wenn man "Grillen" sagt, schwingen neben Essen und Trinken noch zehn andere Sachen mit: Frisbee spielen, Leute treffen, ungeniert mit Bierflaschen herumstehen, Lampions anzünden, Sternbilder raten, Kinder und Glühwürmchen betrachten oder einfach nur zuschauen, wie lange der Tag noch gegen die Nacht durchhält. Und wenn man dann gestochen wird, na ja, das ist eben die finale Bestätigung dafür, dass man gerade ein kleines Abenteuer auf sich genommen hat. Schmerzhaftes Souvenir eines herzhaften Abends, gewissermaßen.

"Ist das ein Weber?"

Wenn je die Frage aufkommt, wonach Deutschland charakteristisch klingt, muss man sagen: Nach dem Kesseln der Weber-Grills in den Neubaugebieten am Samstagnachmittag. Keine Maßnahme hat hiesigen Baumärkten und Nachbarschaftsstreits in den vergangenen fünfzehn Jahren mehr Aufwind gebracht als die grotesken Sonderflächen der Firma Weber, die mittlerweile auch im Winter nicht mehr abgebaut werden. Hat sich ja rumgesprochen: Wintergrillen ist die Nordkapfahrt des kleinen Mannes. Die Firma Weber hat mit dem Import der US-Grillkultur durchaus Pioniergeist bewiesen und hierzulande viel Aufklärungsarbeit betrieben: Der Deckel, die indirekten Grillzonen, das Zubehör von Ahornchips bis Zedernholzplanke - man hatte ja keine Ahnung!

Sechzig Jahre nach Kriegsende haben die Amerikaner Bratwurst und Nackensteak aus dem gemauerten Kamingrill befreit. Der Zubehörkatalog der Firma kann es mittlerweile mit einem Autohersteller aufnehmen. Von der "Halterung für Schweinefiletstreifen" bis zum "Weber Premium Tablett", das mit dem Preis von 49,99 Euro und der Beschreibung besticht: "Dank der rutschfesten, weichen Oberfläche und der vier Gummifüße des eleganten Premium-Tabletts kannst du dein Grillgut sicher und einfach zum Grill tragen und später servieren." Okay! Wäre alles nicht schlimm, wenn die Weber-Anhänger nicht so militant gegen Andersgläubige vorgehen würden.

"Muss denn überall gegrillt werden?"

Gerade hat die junge, dänische Firma Casus einen löblichen Öko-Einweggrill vorgestellt: Mit Bambusstäben, Lavastein, Papphülle und einem Preis von 9,99 Euro soll er jenen fiesen Alu-Quadern entgegentreten, die mit zum Billigsten gehören, was man überhaupt an einer deutschen Tankstelle kaufen kann. Diese Revolution wird natürlich nicht funktionieren. Beim Sachverhalt Einweggrill etwas ökologisch richten zu wollen, ist etwa so, als wollte man beim Sachverhalt Junggesellenabschied auf niveauvolle Unterhaltung achten. Nein, der Einweggrill ist wie das Notrad beim Auto: Spontan ist man geneigt, das Ding zu feiern, weil es einen erst mal rettet. Aber nach zehn Minuten nervt es trotzdem brutal, egal ob man es selbst benutzt oder der Sitznachbar am See.

Windiges Alu, Anzündhilfe, hauchdünnes Grillgitter und eine Arbeitshöhe von etwa zwölf Zentimetern über dem schmutzigen Ufer - wann immer man auf diese toxisch-puristische Art des Grillens zurückgeworfen wird, merkt man, was für eine Katastrophe der ganze Vorgang eigentlich ist. Neonorange vorgewürzte Fleischlappen, die auf bleicher Flamme innerhalb von fünf Minuten von ungenießbar zu halbverbannt mutieren und auf die man sich trotzdem freut wie auf eine Hostie - ein Irrsinn. Aber andererseits auch eine Offenbarung, wie wenig man eigentlich für's Grillen braucht: eine Handvoll Kohlechips in Alu und ein Feuerzeug. Und irgendjemanden, der die fettige-rußige Tretmine hinterher freiwillig in einen überquellenden Parkmülleimer stopft.

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