Gastrokultur:Bestseller zum Bestellen

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Fundstück aus der DDR: 1965 präsentiert ein Pinguin in Leipzig die Gerichte - das Café gibt es immer noch. (Foto: TASCHEN / Menu Design in Europe)

Ein neuer Bildband über 200 Jahre europäisches Speisekarten-Design zeugt von der Eleganz, die früher mit Restaurantbesuchen verbunden war.

Von Johanna Adorján

Die Lektüre eines neuen Bildbands über das Design historischer europäischer Speisekarten macht so glücklich und zufrieden, dass die These aufgestellt werden muss, dass schön gestaltete Speisekarten an sich schon satt machen. Man hätte ja denken können, über 450 Seiten voll mit Aufzählungen prachtvoller Speisenabfolgen ließen einen hungrig zurück. Das Gegenteil ist der Fall. Man kann sich offenbar an Schönheit sattsehen. Was mal wieder zeigt, wie klug die Menschen früher waren, die wussten, dass gutes Speisekarten-Design der Völlerei entgegenwirkt.

Wie arm sind wir dagegen heute, wo wir im Restaurant vom Servicepersonal mit der Aufforderung empfangen werden, unsere Handys rauszuholen und einen QR-Code zu scannen, der in irgendeiner Ecke unseres Tisches klebt. Und so tatschen wir also auch abends noch notgedrungen auf dem blöden verschmierten Display unseres elenden Mobiltelefons herum, das zu dieser Uhrzeit eine Batterieleistung von höchstens noch elf Prozent aufweist, also jeden Moment den Dienst versagen wird. Mit müden Augen versuchen wir scrollend herauszufinden, in welcher Zeile die Vorspeisen aufhören und die Hauptgänge beginnen, bemühen uns, die weit rechts stehenden Preise ihren jeweiligen Gerichten zuzuordnen, und nehmen schließlich, wenn der Kellner nach der Bestellung fragt, einfach das eine Gericht, an das wir uns noch erinnern können, weil wir nicht die Energie haben, noch mal ganz runter oder hoch zu scrollen, und das Telefon auch nicht.

Überhaupt fällt auf, dass man früher sehr viel Fleisch gegessen hat

"Menu Design In Europe", erschienen im Taschen-Verlag, ist eine Sammlung von Speisekarten aus den Jahren 1800 bis 2000, herausgegeben von Jim Heimann, der für diesen Verlag schon einige Bücher über Design verantwortet hat. Historische Speisekarten wurden nirgends zentral archiviert, man findet sie nur mit Glück. Im Nachwort dankt Heimann privaten Sammlern; er selbst fand Karten auf Flohmärkten oder in Antiquariaten.

Die Aufgabe einer Speisekarte? Licht ins Dunkel des Appetits bringen! (Foto: TASCHEN / Menu Design in Europe)

Die Speisekarte wurde in Frankreich erfunden, wo nach der Französischen Revolution Köche, die zuvor für den Adel gearbeitet hatten, begannen, für die Bürger zu kochen. Das Angebot der täglichen Speisen war bald so vielfältig, dass sie es aufschrieben, die carte war geboren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gestalteten Restaurants, auch außerhalb Frankreichs, ihre Speisekarten immer aufwendiger, teilweise wurden bekannte Grafiker oder Künstler engagiert. Die Ergebnisse sind so unterschiedlich wie die Restaurants, deren Aushängeschild die jeweilige Karte war. Manche bestehen nur aus Text, von Hand geschrieben oder gedruckt. Andere zeigen Speisen oder Köche oder ganz andere Dinge, etwa Pierrots oder Kinder, die sich beim Herumtollen gegenseitig in den Po beißen (Ciro's, 1929, Paris).

Das L'Escargot in Paris (franz.: Schnecke) hatte natürlich eine Schnecke als Logo, was auch deshalb passte, weil Schnecken um 1905 die Spezialität des Hauses waren. Die Karte des Dubliner Restaurants The Bailey sah schon 1808 aus wie ein Comic-Strip: über Karikaturen herausgeputzter Frauen stehen die Namen von Fleischgerichten - Kalbsbrust etwa über einer Dame mit entblößter Brust, Rumpsteak über einer mit ausladendem Hinterteil.

Gesamtkunstwerk: Menükarte eines schwedischen Restaurants. (Foto: TASCHEN / Menu Design in Europe)

Überhaupt fällt auf, dass man früher sehr viel Fleisch gegessen hat. Das Berliner Hotel Bristol servierte zum Neujahrsdinner 1892: Kraftbrühe, gefolgt von Fisch, gefolgt von Schinken, gefolgt von Gänseleberschnitzel, gefolgt von Hühnchen. Weiter ging es mit Bohnen, Pfirsichen, Käse und "Nachtisch" (nicht weiter spezifiziert). Das scheint fürs 19. Jahrhundert eine typische Menüfolge zu sein.

Aber Essen spielt in diesem Bildband eine untergeordnete Rolle. Es geht viel mehr um das Lebensgefühl, das man im jeweiligen Restaurant verspüren sollte. Im Abbaye-Albert in Montmartre durfte es ruhig frivol zugehen: Die Speisekarte aus dem Jahr 1909 zeigt einen Mann im Frack zwischen zwei sichtlich angetrunkenen Frauen. Ein umgefallener Stuhl, eine offene Flasche Champagner, ein umgefallenes Glas deuten vorangegangene Ausschweifungen an.

Im Nachhinein entpuppt sich das Studium der Speisekarte oft als bester Moment eines Restaurantbesuchs

Das Grand Cercle in Nizza möchte etwas steifere Gäste anziehen. Auf seiner malerisch gestalteten Karte aus dem Jahr 1927 sitzt ein Paar vor einer südlichen Abendlandschaft mit Palmen. Er raucht, sie nippt am Martini, auf dem Tisch liegt eine Ananas. Zu sagen haben sich die beiden aber nichts. Nach dem Jugendstil mit seiner ermüdenden Vorliebe für laszive langhaarige Schönheiten, die sich natürlich auch über Speisekarten ergossen, werden Speisekarten grafisch immer aufregender. Die der Brasserie Le Canebière aus Marseille sieht 1936 wie ein Jazz-Cover aus, mit mexikanischem Einschlag. Und das Paar, das sich 1930 fürs einst legendäre Larue in Paris bei Zigarre und Champagner amüsiert, könnte von Saul Steinberg sein, dem amerikanischen Karikaturisten, der mit eckigen Linien so elegant lästerte.

Im Buch ist auch eine Speisekarte abgebildet, die der Münchner Otto Ludwig Naegele 1938 für das Café-Restaurant Hoftheater gestaltet hat, das sich "vis-à-vis der Kgl. Theater" in der Residenzstraße befand. Vom Kolonialismus geprägt zeigt es einen schwarzen Mann im roten Gewand, der auf einem Tablett einen Fasan über den Opernplatz trägt. Naegele, der an den Kunstakademien von München und Düsseldorf studiert hatte, war nicht nur ein gefragter Werbegrafiker, sondern auch der erste Torwart des FC Bayern München, den er 1900 mitbegründete. Das aber nur nebenbei.

Die meisten Karten sind aus Frankreich, besonders schöne stammen auch aus Spanien, Dänemark oder der DDR, wo etwa das Restaurant Milchbar Pinguin in Leipzig (das es immer noch gibt) 1965 mit der Zeichnung eines Pinguins aufmachte, der malerisch vor grünem Hintergrund ein Glas gelbe Limonade serviert. Und es seien auch noch die Kunstwerke erwähnt, die Karl Schulpig in den späten 1920er-Jahren für den Berliner Vergnügungspalast Haus Vaterland designte. Für dessen unterschiedliche Themenrestaurants schuf er mit wenigen blauen und schwarzen Linien jeweils eine sofort erkennbare nationale Identität: Das bayerische Lokal bekam Masskrüge und Radi, das Csarda einen feschen Ungarn mit dünnem Schnurrbart, das Türkische Café Halbmond und Stern, und einen Heurigen zierten eine Rose und Noten im Dreivierteltakt.

Im Nachhinein entpuppt sich das Studium der Speisekarte oft als bester Moment eines Restaurantbesuchs. Noch hat man sich den Magen nicht vollgeschlagen, ist nicht müde vom Wein, hat einem kein Schnaps aufs Haus die Verdauung versaut. Man hüte sich vor Nostalgie - die Welt war nicht besser, als man noch vier Fleischgerichte hintereinander oder Schildkrötensuppe aß. Aber dass man schön gestaltete Speisekarten gegen einen QR-Code eingetauscht hat, ist einfach bescheuert.

"Menu Design In Europe - A Visual and Culinary History of Graphic Styles and Design 1800-2000" (herausgegeben von Jim Heiman, Verlag Taschen)

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