Süddeutsche Zeitung

Essen & Trinken:Zirkusdirektoren der Hochgastronomie

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Der Patron war ursprünglich der Garant für den Erfolg eines Restaurants, in der modernen Spitzengastronomie ist er dagegen ein Auslaufmodell. Schade eigentlich. Ein Nachruf.

Von Christoph Wirtz

Welche Daseinsberechtigung besitzt eigentlich der Zirkusdirektor? Herausgeputzt wie ein Pfau beherrscht er weder Salto mortale noch Hochseiltanz, dafür aber die Manege in seinem roten Frack mit Seidenzylinder, die Reitgerte unterm Arm - zum Löwenbändigen gänzlich ungeeignet. Und doch: kein klassischer Zirkus ohne ihn.

Die Zirkusdirektoren der Hochgastronomie sind - besser: waren - die Patrons. Als charismatische Prinzipale durchmaßen sie einst im feinen Zwirn ihr Restaurant, rückten hier beiläufig einen Leuchter zurecht, erkundigten sich dort verbindlichst nach dem Befinden, lenkten mit schneidendem Blick die Aufmerksamkeit der Kellner auf eine gefallene Serviette, parlierten mit den Stammgästen. Kurzum: Sie waren völlig überflüssig, perfekt karikiert in der Figur des Monsieur Septime von Louis de Funès im Sechzigerjahre-Film "Le grand restaurant" - cholerische Geißel seines Personals und eitler Zeremonienmeister versnobter Pariser Pseudogourmets.

Kein Wunder, dass die Patrons die ersten waren, die der kulinarischen Reformation zum Opfer fielen, die der frische Wind des gastronomischen Wandels mitsamt all den barocken Lüstern, Deckchen und gerafften Vorhängen aus den Feinschmeckertempeln wehte. Seit junge, hippe Küchenstars minimalistische Kreationen aus der offenen Kombüse über den Tresen reichen und oft noch den passenden Wein umstandslos danebenstellen, wirken die höfischen Schrumpfformen der Vergangenheit nur noch lächerlich. Vorbei die Zeiten der Sonnenkönige im Gastraum, was fehlt schon, seit sie verschwanden? "Überblick", sagt Vincent Klink und guckt entschieden. "Leute, die den Laden zusammenhalten."

Der schwäbische Meisterkoch ist Herr über die Michelin-besternte "Wielandshöhe", in schöner Hanglage hoch über Stuttgart. Seit bald fünf Jahrzehnten beobachtet er als Gastronom und Gastrosoph die kulinarische Szene, veröffentlicht als einer der wenigen Intellektuellen seiner Zunft immer wieder Pamphlete und fundierte Überlegungen zur Lage der Dinge. Zum Verschwinden der klassischen Patrons hat Klink eine klare Meinung: "Das hinterlässt eine echte Lücke! Es fehlt heute nicht an guten Köchen, es fehlt an guten Wirten. An Leuten, die als Regulativ auftreten, die Qualitätsstandards vorgeben. Ein guter Patron ist für ein Restaurant so wichtig, wie ein Fußballtrainer für seine Mannschaft."

Tatsächlich waren die Patrons der großen Restaurants, anders als das Klischee behauptet, immer weit mehr als bloße Zier - auch wenn das im Restaurantalltag dem Gast (und manchem Mitarbeiter) gelegentlich verborgen blieb und so den Ruf ihrer Überflüssigkeit zementierte. Als Generalisten entging ihnen nichts, weder das nachlässig polierte Silber, noch die leicht trübe Consommé. Zuständig für nichts und verantwortlich für alles waren sie Intendanten und Kuratoren zugleich, vor allem aber: Letztentscheider, Risikoträger. Denn das sind bis heute die Säulen, auf denen die Existenzberechtigung des klassischen Patrons ruht: Er ist Eigentümer seines Lokals, stets präsent und zugleich weder als Küchenchef noch als Maître in dessen Alltagsroutine eingebunden. Er entscheidet über Stil und Ausstattung seines Restaurants, die Besetzung aller wichtigen Posten, verhandelt mit seinem Küchenchef die Menügestaltung, mit seinem Sommelier den Weineinkauf, mit seinen Gästen Fragen des Lebens aller Art.

Durch den Gestaltungswillen herausragender Patrons entstanden quer durch Europa großartige Restaurants, gastronomische Gesamtkunstwerke von Weltrang wie die "Kronenhalle" in Zürich unter Hulda Zumsteg und später ihrem Sohn Gustav, die weltberühmte "Colombe d'Or" in Saint-Paul de Vence unter Paul Roux, "Harry's Bar" in Venedig unter Giuseppe Arrigo Cipriani oder das Pariser "Taillevent" unter Jean-Claude Vrinat. Berühmt wurden diese Ort dank ihrer legendären Patrons - die Küchenchefs kannte meist niemand. Ein Umstand, der lang eher die Regel bildete als die Ausnahme. Kamen doch die Köche erst spät zu Prominenz, im Grunde verdanken sie die Emanzipation ihres Berufsstandes Paul Bocuse seit Mitte der Sechzigerjahre. Wirkte ein Koch einst namenlos in tiefen Kellerküchen großer Hotels und berühmter Restaurants, schwitzte und tat, wie ihm geheißen, führte Bocuse ihn ans Tageslicht. Bocuse war der Erste, der den Herd verließ, um sich feiern zu lassen. Er revolutionierte die Küche, indem er die Unabhängigkeit des Küchenchefs als Besitzer des eigenen Restaurants - als Herr über Menü, Einkauf und Kalkulation - predigte und lebte. Nur so, frei von Bevormundung, konnte sich Individualität entfalten, die Spitzenküche der Gegenwart in ihrer wunderbaren Vielfalt entwickeln. Einerseits.

Andererseits sind die Nachteile groß: Mit der Freiheit kam die Verantwortung. Klink formuliert es so: "Alles fokussiert sich heute auf den Sternekoch, der mit oft übersteigertem Ego der Pleite entgegenkocht. Der Superkoch hängt mit der Nase am Pfannenrand, größere Rundumsicht besteht häufig nicht. Vielen Köchen würde man einen Partner an die Seite wünschen, einen Patron mit Abstand, weniger Testosteron, dem besseren Überblick. Auch auf die Finanzen." Über die kulinarische Landschaft sowieso. Wo manch talentierter Küchenchef als Spezialist oft den jüngsten Trends nervös hinterherkocht, weiß ein erfahrener Patron um die großen Linien, schafft Ruhe, wirkt als Mentor. Er kann seinem Koch zudem - ein enormer Vorteil in Zeiten von Zeitgeistleiden wie Laktoseintoleranz und Spontanveganismus - als Herr im eigenen Haus renitente Gäste vom Leib halten. Vincent Klink weiß: "Ein Patron braucht Fingerspitzengefühl und eine wenigstens rudimentäre Allgemeinbildung, um mit Gästen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Er braucht aber auch die Einsicht, dass man sich nicht gescheiter als der Gast geben darf, sonst sucht der sich einen dümmeren Wirt."

Hierzulande entsprechen dem Bild des klassischen Patrons heute noch am ehesten Privathoteliers mit eigenem Spitzenrestaurant wie Heiner Finkbeiner mit seiner "Schwarzwaldstube" oder Hermann Bareiss mit seinem "Restaurant Bareiss" in Baiersbronn. Auch Vincent Klink kann sich dank eines verlässlichen Teams inzwischen weitgehend auf die großen Linien konzentrieren. Bei einem schillernden Titel wie "Patron" sind die Grenzen ohnehin fließend, wie auch der Bauunternehmer Fritz Eichbauer demonstriert, der mit seinem Münchner "Tantris" den Grundstein der deutschen Spitzengastronomie legte. Damit ist Eichbauer Mäzen, Spiritus Rector des deutschen Küchenwunders und irgendwie auch Patron in Personalunion.

Und dann gibt es da noch Fritz und Bettina Keller mit ihrem "Schwarzen Adler" in Oberbergen im badischen Kaiserstuhl, der wohl beständigsten Bastion verfeinerter kulinarischer Lebensart auf deutschem Boden. Seit Generationen führt die Familie Keller das stolze Wirtshaus, sie beschränkt sich darauf, ihrem Personal die großen Linien vorzugeben, hält sich ansonsten weitgehend raus. Bei permanenter persönlicher Anwesenheit, versteht sich. Letzteres ermöglicht Kontinuität und Nähe zum Personal. Die Kellers sagen, sie wüssten, dass sie sich auf ihre Fachleute auf jedem Posten zu jeder Zeit verlassen können, ob auf die Sommelière, die Küchenchefs oder den Maître Hubert Pfingsttag, der seit mehr als 40 Jahren im Haus ist. Und doch stehen Tag für Tag, mittags wie abends Fritz oder Bettina Keller am Stehpult im Epizentrum zwischen Stammtisch, Saal und Küche und sorgen schon durch ihre Ausstrahlung dafür, dass sich kein Stammgast unerkannt fühlt, kein Hilfskellner vergisst, dass er sich auf einer Bühne befindet.

Eine Präsenz, die auch kulinarisch stabilisierend wirkt - statt fermentierter Sprossen und Espuma-Exzessen gab es im "Schwarzen Adler" stets verlässlich badisch-französische Klassiker auf der Höhe der Zeit, ob wilden Steinbutt auf Beurre blanc, getrüffelte Poularde oder Froschschenkel in knoblauchsatter Petersilienbutter. Manchem Junggastronomen wäre das womöglich zu klassisch, doch die Kellers haben Erfolg damit, dass sie wissen, was sie selbst und ihre Gäste gern essen. Fertig. Kulinarische Selbstdarstellungsorgien wären in diesem Umfeld undenkbar. Die Patrons sorgen zudem seit Jahrzehnten dafür, dass in ihrem Wirtshaus weder ichbezogene Kreative noch sparwütige Controller ans Ruder kommen. Letzteres fällt schon beim Lesen der Weinkarte auf. Gut 2500 Positionen umfasst sie ab 1911, darunter allein 36 Jahrgänge vom Château Mouton Rothschild. Wie baut man solch eine Karte auf? "Die ersten 50 Jahre tun halt weh", sagt Fritz Keller. Und strahlt.

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Quelle:
SZ vom 13.04.2019
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