Süddeutsche Zeitung

Früherer BMW-Chefdesigner Chris Bangle:Der Mann, der das Auto neu erfand

In 17 Jahren unter Chefdesigner Chris Bangle verdreifachte BMW seinen Absatz. Heute lebt er im Piemont - und gestaltet seine eigene Welt.

Von Thomas Steinfeld

Von der Brücke über den Tanaro windet sich eine Provinzstraße die verkarsteten Hänge empor. Sie durchquert den alten Ort Clavesana, den eine barocke, aus roten Ziegeln errichtete Kirche überragt. Auf der Höhe angekommen, führt die "SP 59" durch eine Kette von Weinbergen. Die mattblauen Trauben heißen zwar "Dolcetto", aber der Wein ist trocken.

Dort oben, zwischen der Straße und einer Bruchsteinmauer, steht eine weißlackierte Sitzbank. Manchmal, im Sommer, sitzen die Alten der Nachbarschaft darauf. Zugleich ist sie ein Wegweiser: Wer an dieser Stelle in die Nebenstraße abbiegt, erreicht nach ein paar Hundert Metern einen Weiler mit dem Namen "Gorrea". Hier lebt, mit einer weiten Aussicht auf die Hügel der Langhe und die Schleifen des Flusses, der amerikanische Designer Chris Bangle.

Über diesen Mann heißt es gelegentlich, er habe die Gestalt des Automobils verändert. Der Satz ist vermutlich eine Untertreibung. Gewiss jedoch ist, dass Chris Bangle zwischen 1992 (damals war er erst 35 Jahre alt) und 2009 bei BMW die Abteilung Design leitete: Verbürgt ist ferner, dass sich in jenen Jahren die Produktionszahlen von BMW verdreifachten, auf zuletzt (2009) mehr als 1,8 Millionen Fahrzeuge. Und gesichert ist zuletzt, dass sich in dieser Zeit die Gestalt der Automobile emanzipierte: Durch Fortschritte in der Entwicklung und Behandlung von Metallen wurden Formen realisierbar, die man vorher allenfalls durch Hämmern auf Holzmodellen, Richtplatten und Ambossen hätte verwirklichen können.

Zugleich hörten die Automobile auf, vor allem Mittel der Fortbewegung zu sein. Sie verwandelten sich in symbolische Gegenstände, in mobile Gesten, Skulpturen oder Monumente. Chris Bangle war der Designer, der für diesen Übergang stand, mehr als jeder andere.

Auf dem Schotterplatz vor dem Weiler steht ein glänzend weißer BMW X6, ein mächtiges Gebilde, das zwar halbwegs geländegängig ist, aus dem man aber kaum nach hinten blicken kann. Das Auto gehört Chris Bangle, die Entwicklung des Modells fiel unter seine Regie.

Auch die Autos der Angestellten und der Bauarbeiter stehen auf dem Platz. Es sind verstaubte Kleinwagen von Opel, Fiat, Alfa Romeo oder Dacia sowie ein Pritschenwagen von Hyundai. Keines von ihnen ist eine Skulptur, auch wenn die Giulietta mit ihrer hängenden Nase zumindest so tut. Chris Bangle besitzt ein komisches Talent. Er kann die Schnauze der Giulietta mimisch und gestisch genauso nachahmen wie den Tritt, der in ihre Nase fährt. Danach sieht Chris Bangle für einen Augenblick sehr verbeult aus.

Die Fahrzeuge, für deren Form Chris Bangle verantwortlich war, sehen anders aus als die Vehikel der einfachen Leute und schlichten Formen: wie der massige BMW 7 aus dem Jahr 2001, mit seiner flachen Frontpartie und dem hohen Steiß. Wie der Roadster Z4 aus dem Jahr 2002 mit dem futuristischen Wechselspiel aus konvex und konkav gezogenen Flächen. Wie der Mini Cooper aus dem Jahr 2001, der zwar viel größer ist als das Original, diesem aber an Niedlichkeit scheinbar nicht nachsteht. Von einem "statement" spräche die Werbeabteilung in jedem dieser Fälle.

Eine solche "Behauptung" ist vermutlich auch die leuchtend rote, hölzerne Sitzbank, die auf der anderen Seite des Platzes steht. Sie befinde sich nur vorübergehend hier, sagt Chris Bangle, denn sie sei ein paar Tage zuvor von einem Volksfest zurückgekommen und bedürfe nun der Reparatur. Sie ist so groß, dass man nur mit einem Sprung in den Stütz hinaufkommt (an ihrem gewöhnlichen Standort in den Weinbergen helfen ein paar hölzerne Stufen) und den darauf Sitzenden weit überragt.

Viele Produktionsstandorte in Turin sind verschwunden

Ob denn die Bank etwas mit Automobilen zu tun habe? Chris Bangle versteht die Frage nicht polemisch. "Unbedingt", sagt er. Mit dieser Bank - mit einer ganzen Serie solcher Bänke - habe er etwas schaffen wollen, was vielen Menschen Vergnügen bereite, was man aber nicht fahren könne.

In Turin steht das Museum für die vergangene Größe der italienischen Automobilindustrie. Es beherbergt eine in den Boden eingelassene Karte der Stadt, auf der mit kleinen Leuchten die Fabriken von Fiat, Lancia und Pininfarina, die Betriebe der Zulieferer und die Werkstätten der Designer markiert sind. Zusammen ergeben sie ein Lichtermeer. Wenn Bangle über dieses Museum spricht, treffen sich der Designer und der Coach in Fragen der unternehmerischen Selbstoptimierung. Mindestens zwei Drittel dieser Produktionsorte gebe es nicht mehr, sagt Bangle, und bei den Designern sei die Verlustrate womöglich noch größer. Sie alle hätten Automobile gestalten wollen, erklärt der schmale, jungenhafte Mann von sechzig Jahren.

Wenn man heute etwas entwerfe, müsse man dagegen einen Charakter schaffen. Und dieser Charakter werde dann womöglich ein Automobil, vielleicht aber auch etwas anderes. Man versteht, was er meint: Bis in die Achtzigerjahre bestand die Gestaltung von Fahrzeugen vor allem darin, einer vorgegebenen Technik ein wohlgeformtes Kleid zu verleihen. Die Gestaltung war eine Ableitung aus der Technik, eine Ableitung höheren Grades womöglich, aber immer noch eine Ableitung. Bei einem Charakter jedoch gibt es nichts abzuleiten. Wenn es früher hieß, stolze Besitzer teurer Automobile wollten sich in ihren Fahrzeugen spiegeln, so stellt sich das Verhältnis nunmehr umgekehrt dar: Die Besitzer wünschen sich, die Automobile könnten sich in ihnen spiegeln, in ihrer Kraft und in ihrer abenteuerlichen Gestalt.

Zum Weiler gehört ein Wohnhaus. Es besteht aus einer ehemaligen Scheune, die jetzt Panoramafenster besitzt. Bei klarem Wetter ist der Monviso, ein fast viertausend Meter hoher Berg in den Cottischen Alpen, zu sehen. Zum Weiler gehört außerdem ein Labyrinth aus untereinander verbundenen Gebäuden, in denen Büros, Ateliers, Werkstätten und Konferenzräume untergebracht sind. Mehr als fünf Jahre hätten seine Frau und er nach einem Haus für sich und die Firma gesucht, sagt Chris Bangle, sie hätten einen solchen Ausblick haben wollen und ein Anwesen, groß und abgeschieden, aber in der Nähe einer Schnellstraße und mit guten Verbindungen nach Turin.

Auch die Gebäude sind Skulpturen, mitsamt einem Innenhof, der jetzt als Auditorium dient, mit Treppen, die zuweilen in aufgeschnittenen Rohren verlaufen, und Dachsparren, die als Raumteiler fungieren. "Alles Design", sagt Chris Bangle, "möchte ,Car Design' sein." Er betont diese Formel so, dass man versteht: Er hat viel mehr im Sinn als die Formgebung von Automobilen. Der Satz schließt die großen Sitzbänke ein. All diese Gegenstände sollen Teil einer möglichst totalen Ästhetisierung der Warenwelt sein - auch die Cognacflaschen, die Chris Bangle entwirft, neben Yachten und Küchen.

Zur Ästhetisierung der Welt gehört eine Türglocke, die aus einer Reihe von vier übereinander gehängten grifflosen Bratpfannen besteht. Wenn sie mit einem Klöppel angeschlagen werden, machen sie großen Lärm. Zur Ästhetisierung gehört auch ein Schwimmbad auf einer schmalen Brücke, die sich zwanzig Meter über das unter dem Weiler liegende Tal hinausstreckt. Die Brücke ist mit hochglänzendem Edelstahl verkleidet, in dem sich Himmel, Erde und Pflanzen spiegeln, so dass man sie aus einiger Entfernung gar nicht erkennt.

Marken bestehen aus zur Gewohnheit gewordenen Erwartungen

Zur Ästhetisierung gehören schließlich Hunderte Gegenstände scheinbar spielerischer Art, die sich in allen Räumen finden: ein Schachspiel mit einer Oberfläche wie eine Hügellandschaft, ein Eiffelturm, der wie eine Stoffpuppe gestaltet ist, eine runde Tischtennisplatte für fünf Spieler. Diese Dinge bilden eine Art beseelten Hausrat. "Form", doziert Chris Bangle, sei nicht nur "Funktion", wie es die Designschulen des 20. Jahrhunderts gelehrt hätten. "Form" sei vielmehr "Prozess".

Neulich, sagt Chris Bangle, habe man ihm zwölf leitende Angestellte geschickt, aber nicht eines zu entwerfenden Gegenstands wegen. "Ich möchte zwölf neue Leute", habe ihm der Auftraggeber gesagt. Er habe sie ihm geliefert, keine neuen Menschen, aber Angestellte, die fortan "in veränderlichen Charakteren denken". Mit der Entwicklung von "Marken", meint Bangle, habe eine solche Verflüssigung aller Verhältnisse nur bedingt etwas zu tun. "Studebaker, PanAm und Oldsmobile waren starke Marken, wie Festungen, und es gibt sie schon lange nicht mehr." Marken, sagt er, bestünden aus zur Gewohnheit gewordenen Erwartungen. Chris Bangle kennt viele Varianten desselben Gedankens.

In Turin lebte Chris Bangle in den Achtzigern. Dort entwarf er den Fiat "Coupé", einen gurkenförmigen Sportwagen, der durch scharfe, aber von aller technischen Funktion befreite Sicken in den Kotflügeln auffiel. In München habe er danach lange genug gelebt, um die Stagnation fürchten zu lernen. Wer zu lange bleibe, verbrauche sich in den Kämpfen der inneren Konkurrenz. Man werde hart und einsam. Als er bei BMW angefangen habe, habe er seiner Frau versprochen, höchstens zwei Produktzyklen zu bleiben. Es seien dann doch zwei, drei Jahre mehr geworden.

Dass er nach Turin zurückkehrte, habe an den Menschen gelegen, erklärt er, denen er während seiner Zeit bei Fiat begegnet war, und an denen, die er danach kennenlernte. In seinem Studio arbeiten außer ihm und seiner Frau nur Italiener. Mit ihnen spricht er in flüssigem Durcheinander Englisch und Italienisch zugleich. Nicht nur die Handwerker, mit denen er hölzerne Automodelle baut oder komplizierte eiserne Aufhängungen für Schiebetüren, stammen aus der Nachbarschaft, sondern auch Paolo Ornato, der für ihn wichtigste Architekt.

Neulich, erzählt Chris Bangle, habe er auf dem Hof das hölzerne Modell eines Autos ohne Türrahmen bauen lassen, bei dem die Sitze aus der Karosserie herausgeschwenkt werden. Er zeigt das dazugehörige Video. Es erinnert an ein dörfliches Laienspiel und ist lustig anzusehen, aber der Gedanke liegt plastisch vor Augen. Der Gegensatz zwischen der ländlichen Manufaktur und den automatisierten Fabriken, in denen die dort entworfenen Gegenstände massenhaft hergestellt werden, könnte nicht größer sein.

Auf einem Kalender in einem der Studios ist eine gleichermaßen bunte Entwurfszeichnung des BMW "Gina" zu sehen, eines im Jahr 2008 vorgestellten Prototyps, dessen Karosserie aus einem in sich beweglichen Rohrskelett besteht, über den eine mattsilbern glänzende Haut aus Spandex gezogen ist.

Bangles Bänke stehen an fast zwei Dutzend Orten

Chris Bangle kommt immer wieder auf diesen Entwurf zu sprechen: Das Auto sollte seine Form verändern können, je nachdem, wie es benutzt wurde. Es sollte der animierte Gegenstand schlechthin sein, ein Ding, in dem sich alle möglichen Absichten, Gefühle und Neigungen konzentrieren sollen, während es gleichzeitig über all diese Absichten, Gefühle und Neigungen hinausweist. "Gina" war ein Versuch, Form tatsächlich als "Prozess" zu gestalten, unter einem Markennamen, der viel mehr bedeuten soll als nur Kraftfahrzeuge. "Gina" war als sinnstiftende Instanz gemeint.

So erklären sich am Ende auch die Sitzbänke, die Chris Bangle in die Landschaft setzt. Die rote Riesenbank vor dem Weiler Gorrea ist, ebenso wie die weiße Bank an der Landstraße, eines von vielen Gebilden aus der animierten Welt des Designers. Ein Kulturprojekt für die gesamte Region entstand daraus, das "Big Bench Community Project", das offenbar Besucher in großer Zahl anzieht, aus Gründen vielleicht des ästhetischen Überschwangs. Fast zwei Dutzend dieser Bänke stehen mittlerweile in den Langhe. Stets an erhabenen Orten, von denen man eine weite Aussicht ins Land hat, stets in einer Farbe aus der Palette, die der Designer vorgibt, und unter keinen Umständen mit öffentlichen Geldern gefördert.

Erwachsene Menschen, erklärt Chris Bangle, kämen sich auf der "panchina rossa" noch einmal wie kleine Kinder vor, weshalb sich die Riesenbank so schnell vermehrt habe. Zu den großen Bänken gesellen sich mittlerweile kleine. Sie stehen unter anderem auf dem Marktplatz des Ortes Carrù. Die Vervielfältigung der Bänke, versichert Chris Bangle, beruhe allein auf dem Engagement der Bevölkerung, ihrer Handwerker und Politiker.

Gewiss fallen dem Betrachter angesichts der "panchine" die roten Riesenstühle ein, die ein Möbelhaus zu Werbezwecken in die Peripherie deutscher Städte stellt. Die Bänke sind aber etwas anderes: ein Unternehmen zur Beseelung der Langhe. Dabei geht es gar nicht um die Frage, wie vernünftig das ist oder ob die Langhe so etwas brauchen. Die großen Bänke sind nämlich Charaktere.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2016/vs/pram
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