Wohnen:Weg mit den authentischen Wiesenblumen!

Wohnen: Auf die Tische geschmackssicherer Großstädter gehörten bislang Sträuße, die aussehen, als habe man Wildwiesen geplündert. Das ist jetzt vorbei.

Auf die Tische geschmackssicherer Großstädter gehörten bislang Sträuße, die aussehen, als habe man Wildwiesen geplündert. Das ist jetzt vorbei.

(Foto: Berlian Khatulistiwa/Unsplash)

Locker, natürlich und total individuell: Lange mussten Blumensträuße so aussehen, als sei man gerade von einem Fahrradausflug zurückgekehrt. Doch jetzt kommen Luxus und Künstlichkeit zurück in die Vasen.

Von Jenny Hoch

Blumen sind das Tüpfelchen auf dem Interieur, das weiß jeder, der schon mal in einem Einrichtungsmagazin geblättert hat. Was man dort bisher lernte: Auf die minimalistischen Eichenholztische geschmackssicherer Großstädter gehören Sträuße, die aussehen, als sei man gerade von einem Fahrradausflug vor die Tore der Stadt zurückgekehrt und habe dort die Wildwiesen geplündert. Locker in Glasvasen oder Einweckgläser drapiert verströmen sie jene kuschelige Aura, mit der sich auch ihre Besitzer wohlfühlen: individuell, naturverbunden und auf keinen Fall zu perfekt.

Das ist vorbei. Neuerdings schmückt man sein Heim wieder mit Arrangements, die ganz bewusst so künstlich wirken wie angeklebte Glitzernägel. Statt duftiger Landliebekreationen kombinieren Blumenprofis aus New York, London, Moskau oder Paris jetzt alles, was Knallbunt ist, Eindruck schindet und entweder nach viel Geld oder viel Spaß aussieht. Also eher harte Power-Flower statt softe Flower-Power. Man könnte auch sagen: Die Achtzigerjahre sind zurück. Nach der Mode mit ihren Ballonseideblousons, den Hosenanzügen mit großen Schulterpolstern und dem schrillen Make-up sind jetzt die Blumen an der Reihe. Bad Taste? Es gibt nichts Schöneres!

Das Gute daran: Niemand braucht sich mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man mitten im Winter bitteschön an saisonale Wiesenblumen kommen soll. Eine Phalaenopsis-Orchidee tut es auch. Das sind - einige werden sich erinnern - diese hochgezüchteten, sterbenslangweilig ebenmäßigen Zimmerorchideen, die mal als Inkarnation des guten Geschmacks galten - bis sie in jedem Baumarkt zu Dumpingpreisen verschleudert wurden. Da war es schlagartig vorbei mit der Karriere als It-Blume. Wer will schon ein banales Massenprodukt zu Hause rumstehen haben?

Gut macht sich auch das als Omablümchen verschrieene Schleierkraut

Das will immer noch niemand, so einfach ist es nun auch wieder nicht. Wer wirklich up-to-date sein will, braucht schon etwas mehr als eine einzelne Orchidee. Der nimmt noch ein paar Anthurien dazu, das sind jene plastikähnlichen Blüten, aus denen anzüglich ein fleischiger Kolben ragt, weswegen sie auch "Penis auf dem Tablett" genannt werden. Gut macht sich auch das als Omablümchen verschrieene Schleierkraut oder fedriges Pampasgras, am besten bunt gefärbt, dazu kitschig-romantische Teerosen - und: mit Goldfarbe besprühte Palmwedel.

So macht es jedenfalls Brittany Asch, die in New York das angesagte Flower-Projekt Brrch führt und die sich selbstverständlich nicht Floristin nennt, sondern Blumen-Stylistin. Auf ihrer Website erklärt sie, sie entwerfe Kreationen "aus Welten, die nicht existieren", und wirft die Frage auf: "Warum müssen Blumen eigentlich schön sein?"

Oder die Moskauer Blumen-Influencerin Polina Chentsova. Auf ihrem Instagram-Account Polina_che zeigt sie gleich massenweise hippe Kreationen aus besagten Phalaenopsis-Orchideen, pastelligem Pampasgras und knalligen Anthurien, oft neben teuren Sneakers oder Klamotten. Die New York Times schrieb begeistert über das "Revival der dekadenten Eighties-Blumen" und lobte die "neuen Sehweisen", die "vorausdenkende" Floristen wie Brittany Asch und ihre Kollegen von Fjura in London oder Muse in Paris mit ihren Arrangements ermöglichten.

Sehnsucht nach Ausschweifungen und Eskapismus

Die Frage ist, was will uns das Eighties-Revival - durch die Blume - sagen? Wenn man mal annimmt, dass jeder Trend Ausdruck seiner Zeit ist, dann können die Power-Blumen nur bedeutenden: In Zeiten von Instabilität und Verunsicherung, in der Selbstoptimierung und Abstinenz zum guten Ton gehören und Prüderie um sich greift, steigt die Sehnsucht nach den Ausschweifungen und dem Eskapismus der Achtzigerjahre.

Clubs wie das legendäre Studio 54 in New York, wo Andy Warhol Stammgast war und einst Bianca Jagger auf einem Schimmel einritt, sind bis heute ein Symbol dafür - wenig überraschend −, dass dort ausladende Arrangements mit goldenen Palmwedeln und phallusähnlichen Anthurien zur Grundausstattung gehörten.

"Wir haben öfter Anfragen nach Blumendeko wie im Studio 54", sagt auch Annett Kuhlmann, Mitbegründerin von Marsano, Berlins erster Adresse in Sachen Blumen. Sie beobachtet seit etwa zwei Jahren, dass die Nachfrage nach typischen Achtzigerjahreblumen wie Iris, Nelken, Gerbera oder Orchideen wieder steigt. "Der Minimalismus ist definitiv vorbei", sagt die gelernte Floristin, die früher in Londons High-End-Blumenboutique Absolute Flowers gearbeitet hat, wo sie sich auch um die Blumendeko in Madonnas Privathaus kümmerte.

Wobei man bei Marsano mit dem Artifiziellen, das die Kollegen in New York gerade so betonen, nicht viel anfangen kann. "Perlen, Goldlack, der ganze Kram, davon distanzieren wir uns", sagt Annett Kuhlmann. Sie zeigt auf ein Arrangement, das eine ihrer Mitarbeiterinnen gerade zusammenstellt: "Das ist es, was ich unter 'typisch Achtziger' verstehe: ein lockeres, vegetatives Gesteck, es muss bunt sein, darf auch ein wenig pieksen, und ganz wichtig: Es kommt ohne Vase aus."

Die Suche nach dem einen perfekten Moment

Zu sehen ist ein luxuriöses, geradezu wildes Durcheinander aus Päonien, Wicken, Ringelblumen, Spiraea, Rosen und Orchideen, deren Stängel gekürzt und in Steckmasse versenkt wurden. Regeln seien dazu da, um gebrochen zu werden, sagt Annett Kuhlmann: "Am liebsten bündele ich die teuersten Blumen, als seien sie Wiesenblumen."

Luxus, aber weitergedacht - so könnte man zusammenfassen, was da gerade passiert. Denn natürlich geht es nicht um Kopien der Achtziger, sondern um eine hybride Weiterentwicklung, die sich aus allen möglichen Einflüssen speist. Annett Kuhlmann scrollt durch den Instagram-Account von Polina_che, der Moskauer Influencerin. "Hier", sagt sie, "sehen Sie diese Rosen? Die wurden alle einzeln von Hand aufgefaltet." Darum geht es: Um die Suche nach dem einen perfekten Moment, der im nächsten Augenblick schon wieder vorbei ist. "Das hat schon etwas Perverses", fügt sie hinzu, "man schneidet Blumen ab, gibt sich unendliche Mühe und dann hält das Ganze nur einen einzigen Tag."

Die Floristin versucht deshalb gerade, ihre Kunden umzuerziehen und bietet ihnen Kompositionen an, die das Werden und Vergehen sichtbar machen. Will heißen: Verwelkte Blüten und Blätter, die von einem Strauß herunterfallen, werden nicht sofort aufgelesen, sondern sollen das Arrangement malerisch ergänzen - ganz wie auf einem altmeisterlichen Gemälde. Wenn das nicht nach einem neuen Trend klingt - diesmal einem für die Ewigkeit, ohne Fixierung auf ein bestimmtes Jahrzehnt. Einen Namen dafür gibt es auch schon: "Broken-Flower-Stil".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: