"Gaudeamus igitur, iuvenes dum sumus" - "Wir wollen also fröhlich sein, solange wir noch jung sind": Mit diesem alten Studentenlied werden Schüler im Lateinunterricht dazu genötigt, den Wert der Jugend zu besingen. Der ein oder andere blickt dabei womöglich an sich herunter und fragt sich, warum er selbst so wenig fröhlich aussieht. Sondern so geschniegelt und gebügelt. Und kein bisschen jung.
Eines Tages wird dieser Schüler in den Fotoalben seiner Kindheit blättern, traurig den Kopf schütteln und fragen: "Mama, Papa, wie konntet ihr mich nur in diese Spießerklamotten stecken? In Hemden und Pullunder, in Mini-Sakkos, Designershirts und Lederschuhe, in gedeckte Farben und edle Stoffe?"
In der Tat eine berechtigte Frage: Was reitet Eltern, die ihren Nachwuchs anziehen wie junge Erwachsene? Ist die Leistungsgesellschaft schuld? Schließlich werden in der tollsten Kita des Viertels nur Kinder angenommen, die beim Vorstellungstermin besonders professionell spielen. Bereits im Kindergarten können oft zwei Sprachen erlernt werden. Eltern erscheinen mit Bewerbungsmappen zum Vorstellungsgespräch. In der Grundschule entscheidet sich dann der restliche Lebensweg - wer nicht schnell genug eins und eins zusammenzählen oder mit Batterie, Drähten und Glühbirne einen Stromkreis bauen kann, hat eh schon verloren.
Also fördern manche Eltern ihre Kinder mit einer Taktik, die sie selbst in ihren ersten Berufsjahren erlernt haben: nach außen hin kompetent wirken, um für kompetent gehalten zu werden. Ein Junge, der aussieht, als hätte er bereits einen Universitätsabschluss, qualifiziert sich vielleicht leichter für den besseren Kindergarten, die erfolgversprechendere Grundschule, das renommiertere Gymnasium.
Wir tragen Bürzelblusen mit Poposchürze, laufen eingepackt wie Polarforscher durch die Stadt und legen uns meterlange Schalschlingen um den Hals. Warum nur? Aktuelle Modetrends, aufgespießt in der wöchentlichen Kolumne.
Außerdem können eitle Eltern, die ohne viel Aufwand eine kleinere Version ihrer selbst erschaffen, so viel Zeit sparen! Ob die Modeindustrie auf dieses Phänomen reagiert oder es umgekehrt erfunden hat, ist nicht mehr nachvollziehbar. In jedem Fall ist der Familien-Großeinkauf bei Lacoste und Hilfiger heute ratzfatz erledigt - die Auswahl der Eltern wird einfach in den Größen 104 und 116 mitgekauft. Schon sind die beiden Racker perfekt gekleidet und zeitintensive Ausflüge in das Kindergeschäft erfolgreich wegrationalisiert.
Doch bei allem Verständnis für Leistungsdruck und Narzissmus: Sollten Kinder nicht ihrem Alter entsprechend gekleidet sein? Schon allein, weil ihre Kindheit die einzige Zeit sein wird, in der sie blaue Pullover mit aufgestickten Tieren und Bommeln zu gelben Stoffhosen anziehen können, ohne dafür schief angeschaut zu werden?
Natürlich schütteln auch viele Erwachsene heute den Kopf, wenn sie sich selbst auf Kinderfotos sehen. Lila Pluderhosen zu gestrickten Ringelpullovern mit Zierkrägelchen. Hilfe, Geschmackspolizei! Aber in Winchester-Hemd, Sakko, Pullunder und Lederschuhen können die lieben Kleinen noch den Rest ihres Lebens herumlaufen, sollten sie sich irgendwann aus persönlicher Überzeugung dafür entscheiden. Bis es so weit ist, sollten sie aussehen wie Kinder - bunt und fröhlich.
Oder liegt der Grund für die textile Verunstaltung in Wahrheit ganz woanders? Hofft mancher Vater aus der späten Generation vielleicht auf einen persönlichen Vorteil, wenn der Kleine an seiner Seite aussieht wie eine Kreuzung aus Josef Ackermann und Prinz Charles? Weil er daneben gleich um 15 Jahre jünger wirkt?
Doch das könnte nach hinten losgehen: Früher oder später wird der Nachwuchs sich nämlich oberbekleidungstechnisch von seinen Eltern emanzipieren - und sich in Sachen Mode in die entgegengesetzte Richtung orientieren. Wäre kein Wunder, wenn der Hoffnungsträger der Familie sich dann die fehlende Kindheitserinnerung mithilfe von geringelten Baumwollstrumpfhosen, Latzhosen und Mützen mit Katzenohren zurückholt.
Sollte der Sohn eines Tages in Strickpulli, Bommelmütze und gelber Cordhose zur Familienfeier erscheinen, wird der Vater schmerzlich erkennen, dass der Apfel zuweilen möglichst weit rollt, wenn er nicht weit genug vom Stamm fallen durfte. Vor allem aber wird der gediegene Herr in seinen Spießerklamotten die Erfahrung machen, dass er neben diesem jungen Typen mit der Bommelmütze ziemlich alt aussieht.