Es hat eine Weile gedauert, bis der Autor dieser Zeilen, selbst erprobter Radfahrer und seit einigen Jahren Anwohner einer ausgewiesenen Fahrradstraße in Berlin, begriff, warum sich immer mehr Menschen eine Plastik-Schwimmnudel auf den Gepäckträger klemmen. Der erste Gedanke: Die wollen doch nicht alle zur Wassergymnastik?! Irgendwann machte es klick: Die links weit nach hinten hinausragende Nudel aus Schaumstoff soll natürlich aufdringliche Autofahrer auf Distanz halten. Ein genialer, aber leider auch ziemlich hässlicher Lifehack für den täglichen Verkehrskampf auf den Straßen. Not macht erfinderisch.
Dass Autofahrer beim Überholen von Radfahrern oft zu wenig Abstand halten, ist kein neues Problem. Es hat sich allerdings verschärft, seit die Autos immer größer werden und seit die Städte immer dichter bebaut, bewohnt, befahren und auch noch von einer ständig wachsenden Armee täglich ausschwirrender Kleintransporter von DHL & Co. beliefert werden. Da braucht es Mut zur Selbsthilfe. Und es braucht Ideen.
Die Idee mit der Schwimmnudel radelt inzwischen um die ganze Welt. Zum ersten Mal medial erwähnt wurde sie im Oktober 2016 im Toronto Star , der größten kanadischen Tageszeitung. Interviewt wurde dort ein gewisser Warren Huska. Er fahre die 18 Kilometer von zu Hause in der Nähe des Beaches-Viertels zur Arbeit in North York fast täglich mit dem Rad, erzählt er da, und dass er Mitte des Jahres 2015 auf die Idee kam, mit angeklemmter Schwimmnudel zu fahren - sehr zum Erstaunen und Amüsement seiner Mitmenschen. "Die Leute sind in ihrem Auto so isoliert, sie haben gar kein Gespür dafür, wo die Außenkanten sind", sagt Huska in dem Artikel. "Ob ich dabei gut aussehe, ist mir egal. Mir geht es vor allem um meine Sicherheit."
Damit brachte Warren Huska, den wir hier voller Vertrauen in den Toronto Star als Erfinder der Fahrrad-Schwimmnudel feiern wollen, sehr gut auf den Punkt, was beim Radeln in Ballungszentren wie Toronto, Berlin, München oder London heute gilt: Wer auf dem Rad das Gefühl haben will, etwas für seine Sicherheit zu tun, muss ästhetische Ansprüche weit hintanstellen. Nicht nur die Schwimmnudel ist ja eigentlich potthässlich. Auch der ganze Neon-Alarm, der sich zum Zweck der high visibility, also der Hochsichtbarkeit, zum Radfahren überziehen lässt, wird optisch sensibleren Naturen niemals gefallen. All diese Neon-Überzieher für ästhetisch ohnehin oft fragwürdige Helme, für Rucksäcke und Schuhe, all diese Neon-Handwärmer und Neon-Westen. Oder für diejenigen, die keine ganze Weste anziehen möchten, gibt es auch Neon-Reflektor-Torso-Geschirre wie aus dem Bauarbeiter-BDSM-Shop. Auch nicht so wahnsinnig schön anzusehen.
Halten die Autos beim Neon-Look noch extra drauf?
Der heutige Fahrradfahrer-Look ist, so könnte man schon sagen, total eskaliert - um andere Eskalationen, also Unfälle, zu vermeiden. Sprich: Man verlegt den Ernstfall in die Garderobe. Hoffentlich. Das wäre sogar sinnvoll, wenn man so tatsächlich sicherer leben würde. Allerdings ist das eher fraglich, weil sich ja viele Radfahrer dem Neon-Look bisher noch verweigern. Zum anderen weil die Lage in Deutschland derzeit folgendermaßen aussieht: "Das Statistische Bundesamt meldet einen historischen Tiefststand der Unfallzahlen in Deutschland. Die Zahl der getöteten Radfahrerinnen und Radfahrer ist aber das zweite Jahr in Folge gestiegen", informiert der ADFC, der Lobby-Verein der deutschen Radfahrer, in seiner Pressemitteilung zu den Unfallzahlen 2019.
Bis November des vergangenen Jahres gab es 426 tote Radler. Da stellen sich Fragen: Macht der Neon-Look die Auto- und Lkw-Fahrer so aggressiv, dass sie erst recht draufhalten? Oder fühlen sich die Radfahrer in ihrem Neon-Kram so unwohl, dass sie umso fester in die Pedale treten, um ihn möglichst rasch wieder ausziehen zu können? Schneller fahren wäre dann ja wieder gefährlicher. Die Überschrift der ADFC-Mitteilung lautet jedenfalls: "ADFC fordert fundamentale Umgestaltung der Städte".
Das wäre natürlich schön. Wenn Radfahrer sich gar nicht erst als Strahlenschutz-Legomännchen verkleiden müssten, um das zu kompensieren, was von der Politik und der Stadtplanung seit Jahrzehnten vernachlässigt wurde: Städte so zu designen, dass man sicher und entspannt durch sie hindurchradeln kann. Dass es langsam hier und da Fahrradstraßen gibt, reicht bei Weitem nicht aus. Vor allem nicht, wenn deren Sinn und Zweck bei Autofahrern partout nicht ankommen will. Wer direkt an einer Fahrradstraße wohnt, wird bestätigen, dass es spätestens alle 15 Minuten zu Geschrei kommt. Meistens deswegen, weil ein Autofahrer beim Einbiegen mal wieder nicht glauben konnte, dass Räder hier tatsächlich Vorfahrt haben - oder dass die Einbahnstraße wirklich nur für Autos gilt.
Eine Novelle der Straßenverkehrsordnung schreibt neuerdings unter anderem einen Mindestabstand von anderthalb Metern beim Überholen von Fahrrädern in Städten vor, und die Bußgelder für das Parken auf Radwegen und Fahrradschutzstreifen werden deutlich erhöht. Das ist schon gut und richtig. Geht aber nicht weit genug. Wie wäre es, wenn Autos mit einer Fahrradschutzsoftware ausgestattet sein müssten? Fast jedes moderne Auto macht biep-biep, wenn es beim Einparken zu nah an ein anderes Auto herankommt. Da soll es technisch nicht möglich sein, einen Pkw per Sensor auf die Bremse treten zu lassen, sobald der Mensch hinterm Steuer mal wieder einen Radfahrer übersieht oder dessen Knautschzone großzügig überschätzt?
Leider wird es wohl noch etwas dauern, bis Autos smart genug sind für die neuen Verkehrsverhältnisse in der Stadt. So obliegt es weiter allein den Radfahrern, für ihre Ausstattung zu sorgen. Einer der wenigen Lichtblicke in diesem Kontext sind seit einigen Jahren die Alternativen zum Fahrradhelm der Firma Hövding. Sie sehen aus wie dicke Halskrausen und blasen sich im Ernstfall, ähnlich wie ein Airbag im Auto, zum prallen Luftpolster auf. Das umschließt den ganzen Kopf, ein bisschen so wie eine Haartrockenhaube. Leider sind solche Rad-Airbags aber sehr teuer und haben, wenn man Erfahrungsberichten glauben darf, die Tendenz, teils zu sensibel auf Erschütterungen zu reagieren. Sprich, die Sensoren geben den Aufpumpbefehl auch schon mal beim harmlosen Überfahren eines dicken Hubbels.
LED-Systeme sind viel schöner als Katzenaugen
Ein anderes Hilfsmittel zur Bewältigung des Stadtverkehrs sind die neueren Optionen für Rückspiegel. Fahrradrückspiegel, da denkt man ja normalerweise an weit vom Lenker abstehende Chromteile, so wie früher bei Klapprädern oder sogenannten Bonanza-Rädern in den Achtzigerjahren. Hässlich! Für die Radlerpsyche kann es aber enorm entspannend sein, wenn man sich nicht immer gleich den Hals verdrehen muss, um zu checken, ob sich dieses schnell nahende Brummen von hinten tatsächlich auf Kollisionskurs befindet.
Neuerdings gibt es dezentere Rückspiegeldesigns. Etwa kleine Spiegelchen, die man sich mittels eines dünnen schwarzen Metallstabs seitlich an den Fahrradhelm klemmt. Der Spiegel bleibt konstant im Blickfeld, allerdings macht er auch jede kleine Kopfbewegung mit. Da sind am Lenker fixierte Spiegelchen vielleicht besser. Am schicksten - weil: am unauffälligsten - sind die Rückspiegel, die man bei Rennrädern unten in das offene Endes des Lenkers stecken kann. Sie befinden sich allerdings fast schon zu tief. Um in sie reinzusehen, muss man den Kopf nach unten kippen, wobei dann das, was vor einem geschieht, ganz aus dem Blickfeld gerät. Auch nicht ideal.
Gibt es also gar nichts Gutes und rundum Gelungenes? Doch, es gibt die bezaubernde Schönheit illuminierter Fahrradfelgen und Speichen in der Nacht. Gemeint sind hier nicht die altbackenen Katzenaugen, die man früher zum Weltspartag geschenkt bekam und die ein bisschen Licht zurückwerfen, wenn sie in einen Scheinwerferkegel geraten. Stattdessen gibt es heute von amerikanischen Firmen wie Monkeylectric neuartige LED-Systeme, die, zwischen Speichen und Radachse montiert, aparte, beinahe psychedelische Lichtspiele ins rollende Rad projizieren. Wenn man dann dazu noch einen dieser neuartigen Helme trägt, die mit integrierten Rücklichtern und Blinkern ausgestattet sind, sieht man fast aus wie ein Light-Runner aus dem legendären Science-Fiction-Film "Tron".
Leider haben aber solche LED-Systeme in Deutschland keine Zulassung. Vermutlich, weil ihre Effekte so spektakulär sind, dass andere Verkehrsteilnehmer unter Umständen zu lange hingucken. Die Grenzen zwischen Aufmerksamkeitserregung und Ablenkung sind ja fließend - und dann könnte es schon wieder gefährlich werden.
Das ist wohl auch das Problem bei den sogenannten "Bike Balls", die sonst eigentlich der schönste Kommentar zum täglichen Stress zwischen Autos und Rädern auf den Straßen wären. Diese batteriebetriebenen, aus Silikon geformten Rücklichter in Hodensack-Optik hängt man sich hinten am Sattel zwischen die Beine. Die baumelnden Bike Balls symbolisieren die sprichwörtlichen Eier, die man als Radler - und natürlich auch als Radlerin - braucht, um sich heute überhaupt noch in den Stadtverkehr zu wagen. Dummerweise sind die Balls aber aus der Entfernung gar nicht so gut als Hoden zu erkennen. Sollen Autofahrer etwa extra dicht heranfahren, um sich ein Bild zu machen? Dann könnte es mal wieder zu spät sein.