Süddeutsche Zeitung

Essigsorten:Es muss nicht immer sauer sein

In den Läden stehen so viele Essigsorten wie nie zuvor - von Birne bis Basilikum. Doch echte Qualität entsteht nur durch Handarbeit. Ein Besuch bei der Manufaktur Gegenbauer in Wien.

Von Laura Hertreiter

Erwin Gegenbauer flackert durch die Katakomben seiner Essigmanufaktur in Wien. Das grüngemusterte Hemd und seine orange Hose leuchten sogar im fahlen Kellerlicht. Er ist der Mann, von dem alle reden, wenn es um guten Essig geht. Seine Antwort auf die Frage, worauf es dabei ankommt, hat er ganz hinten im Gewölbe versteckt, in einem der letzten Regale, auf denen dunkelrote, karamell- und honigfarbene Essigsorten in Glasballons schimmern. Seine Stimme hallt in weichem Wienerisch durch die Gänge. "Der größte Irrtum ist ja, Essig müsse sauer sein." Auf die Balance von Süß und Sauer komme es an, ohne Zusätze, ohne Tricks. Eine große Kunst, die im Supermarkt selbstverständlich nicht zu haben sei.

Wer hingegen nachsieht, im Essigregal eines sehr gut sortierten Münchner Supermarktes, kann den Eindruck bekommen, dass die Kunst erstaunlich groß geworden ist: 24 Sorten, von Balsamico bis Branntwein, von Birne bis Basilikum, von 89 Cent bis 29 Euro. Schmale, dicke, dünne, bauchige, eckige Flaschen mit Etiketten, deren Vielfalt die von Ölen eingeholt hat. Nie war die Auswahl größer, nie schwieriger.

Zumal Skandale um verbotene Zusatzstoffe die Deutschen in den vergangenen Jahren verunsichert haben. Zum Beispiel, als ausgerechnet in vielen Flaschen ihres Lieblingsessigs, des Balsamicos, Farbstoffe, Zucker und rätselhafte Rückstände nachgewiesen wurden. Erstaunlich ist das nicht. Ein Produkt, das mit schwer berechenbaren Bakterien über Jahre reifen muss, fordert Industrie-Tricksereien geradezu heraus.

Wer also wissen will, worauf es bei gutem Essig ankommt, der landet früher oder später im Keller des österreichischen Produzenten Erwin Gegenbauer. Sein Name fällt in internationalen Fachmagazinen und kulinarischen Reiseführern, die Gastro-Presse nennt ihn gern "Essig-Papst", ein Titel, der zumindest noch fehlte. Restaurants von Tokio bis New York bestellen seine Sorten, Spitzenköche schwärmen davon wie von wertvollem Wein und stimmen Menüs bis hin zum Dessert darauf ab.

Acht Angestellte arbeiten hier an etwa 70 Sorten Essig

Woher der Hype stammt, zeigt Gegenbauer, 54, interessierten Besuchern jede Woche in den Katakomben seiner Manufaktur in Wiens zehntem Bezirk. Es ist zugleich sein Zuhause, im ersten Stock lebt er mit Frau und Töchtern, kontrolliert die Gärprozesse an den Tanks alle drei Stunden, auch nachts. Man muss wohl von Hingabe sprechen. Acht Angestellte arbeiten hier an etwa 70 Sorten Essig.

Reinsortiger Apfelbalsam, Brombeeressig, Melone, Feige, Safran, Zitronengras, Trockenbeerenauslese. Keiner davon wird pasteurisiert oder filtriert. Wie viel Liter Gegenbauer pro Jahr verkauft? Er wischt die Frage mit der Hand aus der Luft. "Entschuldigen Sie vielmals, aber Zahlen interessieren mich nicht." Größer solle der Betrieb jedenfalls nicht werden. "Guten Essig kann man nicht in Masse produzieren." Die Rohstoffe gebe es nicht immer, schon gar nicht in großen Mengen. Das ist der Moment, etwa Minute vier des Rundgangs, als die Essig-Führung zur kulinarischen Philosophiestunde wird.

"Es ist sowieso eine Schande, dass wir bei Wein über gute Jahrgänge diskutieren, bei anderen Lebensmitteln aber nicht", sagt Gegenbauer. "Als wären Äpfel, Himbeeren, Gurken jedes Jahr gut." Essig ist für ihn ein Symbol dafür, wie Konzerne Konsumenten zu Billigessern erziehen. Gegenbauer weiß, wovon er redet, sein Familienbetrieb war selbst einmal ein solcher Konzern: 600 Mitarbeiter, in den Achtzigern füllte der Vater täglich Tausende Gläser Essiggurken ab.

Der Sohn, studierter Betriebswirt, führte damals die Verhandlungen mit den Einkäufern der Ketten, er nennt sie noch heute Hyänen. "Sie zwingen alle, billig zu produzieren, deshalb verwenden alle dieselben schlechten Zutaten. Und uniformieren so den Geschmack der Leute." Er schimpft und flucht ein wenig und sagt: "Über Essen müssen wir unbedingt leidenschaftlich diskutieren. Aber bitte, in der Zeitung glätten Sie mir das ein bisserl."

1992 verkaufte Gegenbauer und verwandelte den Gürkchenkonzern des Vaters in eine kleine Essigmanufaktur. Dort führt er nun seinen Besuch vorbei an Mitarbeitern, die Flaschen abfüllen, zwölf bis 55 Euro kostet der Viertelliter, 100 Milliliter der alten, seltenen Sorten mehr als 100 Euro. Im Keller lässt Gegenbauer dann am hintersten Regal im Halbdunkel verkosten. Mit einer Pipette träufelt er Besuchern seiner Führungen dann etwas Spargelessig unter die Zungen. "Stellen Sie sich das in einer Sauce Hollandaise vor", sagt er, während sich der Geschmack frischen Spargels in den Mündern ausbreitet. Dann Tomate. Dann Melone. Jedes Mal wartet er einen Augenblick, die Minen der Verkoster gespannt im Blick. Sie nicken, jedes Mal.

Neben Erwin Gegenbauer gibt es nicht viele Hersteller, die Fruchtessig mit solchem Erfolg unter Kennern produzieren. Alois Gölles, der seit 30 Jahren in der Steiermark Premiumessig aus Äpfeln, Birnen, Kirschen, Zwetschgen oder Marillen braut, ist ein Vorreiter gewesen. Wie Gegenbauer gilt er als Idealist, als kulinarischer Künstler. Braucht man also eine gewisse Besessenheit, um guten Essig zu produzieren?

"Definitiv", sagt Ralf Bos, Chef des Feinkost-Großhandels Bos Food, am Telefon. Er verkauft 400 000 Liter Essig pro Jahr, mehr als 300 Sorten. "Man muss schon etwas durchgeknallt sein, um ein Produkt, das mehrere Jahre reifen muss und so lange immer eine Investition ist, mit solcher Hingabe zu machen." Der Erfolg aber zeige, wie sich das Essig-Verständnis in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat.

Von der Essigwüste zur Balsamico-Welle

Noch Mitte der Achtziger war Deutschland eine Essigwüste, in den Läden standen zwei, drei saure Wein- und Branntweinessige. Bis die Balsamico-Welle aus Italien anrollte. Da sein Name nicht geschützt ist, steht im Supermarkt bis heute allerdings meist gefärbte Plörre: Billiger Weinessig, Traubenmost, Zuckercouleur. Das Original, Aceto Balsamico Tradizionale, kurz ABT, ist vergorener Traubenmost, mindestens zwölf Jahre gereift.

Wenn Geld keine Rolle spielt, könne man damit nichts falsch machen, sagt Händler Bos. Denn die Sorte werde von einem italienischen Konsortium überwacht - das dafür 150 Euro pro Liter verlangt, weshalb die Flasche nicht unter 200 Euro zu haben ist. Nun aber, sagt Bos, sei Frucht- und Gemüseessig auf dem Vormarsch. Ein Trend, der aus der gehobenen Gastronomie, wo man schon eine Weile damit würzt, in die Haushalte schwappte. Nicht aber in die Supermärkte. "Alles Fake dort", sagt Bos.

Ein Blick auf den Himbeeressig im Münchner Supermarkt: Die knallpink gefüllte Viertelliterflasche "Kühne Essigspezialität Himbeere" für 1,70 Euro enthält: Branntweinessig aus Industriealkohol, Aromastoffe, Saftkonzentrat, Antioxidationsmittel und für Allergiker bedenkliches E224. Ein Tropfen auf der Zunge, und die Säure brüllt scharf am Gaumen.

Ein Tropfen vom Wiener Himbeeressig und man schmeckt die frische Beere noch 30 Minuten lang. Das liegt daran, dass Essig wie dieser doppelt vergorenes Obst ist. Gegenbauer macht aus der Frucht mit Eigenhefe Wein. Den vergärt er mit Bakterien zu Essig, der dann drei Jahre lang in den Katakomben im Glasballon reift.

Wer bei Spitzenköchen nachfragt, weiß, was für ein Erfolgsrezept das ist. Juan Amador, Restaurants in Frankfurt und Singapur, schwört auf Gegenbauers Apfel-Balsam zu geeister Gänseleber. Und die hochkarätige Trockenbeerenauslese zu Vanilleeis. "Dass jemand aus so hochwertigen Früchten und Weinen Essig macht, ist unglaublich", sagt er. Kollege Nils Henkel beteuert, er koche fast nur damit. Den milden Trinkessig, den "Edelsauren" aus einer andalusischen Traube, serviert er pur als Digestif.

Die meisten Köche haben diese Essigliga erst kennengelernt, weil Gegenbauer irgendwann in ihre Küche spaziert ist. Auch bei Michael Hoffmann stand er vor 15 Jahren plötzlich im Berliner Sternerestaurant am Herd. Gekleidet wie ein Paradiesvogel, eine Flasche unterm Arm. Heute sagt Hoffmann: "Das war eine kleine Offenbarung." Gerade für die vegetarische und vegane Küche. "Wenn man Gemüse einkocht, verliert es seine natürliche Säure. Ein Spritzer Tomaten-, Paprika- oder Gurkenessig, und die Frische ist da."

Essig mache die Gerichte zugleich bekömmlicher - die positive Wirkung auf die Verdauung ist ja schon seit dem Altertum bekannt. Kulinarisch Interessierte müssten froh sein, "dass es Freaks wie den Gegenbauer gibt".

Der steigt zum Ende seiner Führung die Treppe aus dem Keller hinauf, deutet rechts in einen Raum, wo er eine Pelletheizung installieren will, "wenn mal das Geld reicht", dann durchquert er den Innenhof und zeigt auf das Flachdach. Dort oben liegen eine Reihe Holzfässer, in denen Balsamessige fünf Jahre lang lagern. "Die Essigbakterien reagieren auf den Wechsel von Winter und Sommer, so entsteht die Harmonie im Geschmack." Dann holt auch er aus zu einem bewegten Exkurs über die "Balsamico-Mafia".

Wenn es um Essig geht, wird man ihn niemals sprachlos erleben. Nur auf die Frage, ob einer wie er beim Italiener um die Ecke Balsamico über den Salat kippt, schweigt er. Einen Moment lang.

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Quelle:
SZ vom 27.06.2015
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