Essen und Trinken:Leitungswasser hat in der deutschen Tischkultur keinen Stellenwert

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In der deutschen Tischkultur hat Leitungswasser einen schlechten Stellenwert. (Foto: dpa)

Dass Leitungswasser zum Essen nicht nur gesund, sondern auch ein Genuss ist, will den Deutschen einfach nicht dämmern. In anderen Ländern ist man längst weiter.

Von Michael Frank

Die erste literarisch dokumentierte Weinprobe fand zu Kana statt, bei jener Hochzeit, auf der der Wein ausging. Jesus, beim Festmahl zu Gast, verwandelte mitfühlend Wasser in Wein, führte die Brautleute allerdings als Banausen und Knauser vor: Der Speisemeister erboste sich, es gehöre sich nicht, zunächst ein simples Getränk aufzutischen, und dann erst, wenn die Gäste schon berauscht seien, den edleren Trank. So berichtet der Evangelist Johannes. All das offenbart neben einer gewissen Strenge des Wundertäters auch dies: Das Wasser muss so köstlich gewesen sein, dass es den Herrn animierte, einen besonders eleganten Tropfen daraus zu zaubern.

Wasser und Wein - was für eine elementare Beziehung. Wasser, Urelement und Elixier unseres ganzen Lebens: Ist es nicht Sinnbild und idealer Ausdruck von Wohlleben und Wohlfahrt, von Zivilisation und Kultur und zugleich von elementarer Naturkraft? Ein Festmahl, ein Zechgelage ist eigentlich nur so gut, wie gut und reichlich sein wichtigstes Ingredienz fließt, nämlich frisches, klares Wasser. Es stillt den Durst, es begleitet und umspielt Speisen und Getränke, es erschließt oft erst den genüsslichen Gehalt des Weiteren, denn ein feiner Tropfen gegen den Durst getrunken, das wäre erstens kein Genuss und zweitens groteske Verschwendung. Überdies schmeckt frisches, klares Wasser wunderbar.

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In der deutschen Tischkultur hat es diesen Stellenwert nicht. Es ist kaum zwei Generationen her, dass man sich im privaten Rahmen wirklich Gedanken über Qualität und Geschmack von Wasser macht. Dass sich etwa Brauer für ihr Bier um die Qualität dieses Grundstoffes sorgen müssen, das kannte man. Einige wussten sogar noch, dass der Geschmack von Nudeln nicht zuletzt von der Beschaffenheit des Teigwassers abhängig ist. Aber Wasser als Geschmackserlebnis, das ist neu. Vielfach wird mit Wasser immer noch achtlos umgegangen, allenfalls zwischen "mit und ohne Kohlensäure" unterschieden und dabei Leitungswasser nachgerade verachtet. Die Zunft des Wassersommeliers ist noch exotisch, sie hat mit Missionstätigkeit zu tun.

Rigidere Alkoholbestimmungen im Verkehr und eine Rückbesinnung auf alles, was gesund und "pur" ist, haben dem Wasser im Alltagsgebrauch dennoch eine ganz neue Rolle beschert. 1970 trank jeder Bundesbürger pro Kopf und Jahr statistisch etwa 14,5 Liter Mineralwasser, heute sind es 175 Liter. Haben die Leute vorher Leitungswasser getrunken? Eher nicht, sonst hätte sich die Vorliebe doch halten müssen, indem man auch in Restaurant, Gasthaus oder Imbiss leichthin Leitungswasser bekäme. Seinetwegen muss man es in mancher Gaststube beinahe auf einen Streit ankommen lassen.

Bestellt man zum Essen ein Glas Wasser, macht man sich sofort verdächtig, ein ekelhafter Geizhals zu sein. Der Wirt nimmt an, man wolle das Glas Leitungswasser gratis. Denn Mineralwasser aus der Flasche - oder heute Tafelwasser aus dem Zapfhahn - ist die Ware, die einem Gastronomen in Deutschland die mit Abstand höchste Gewinnmarge bringt. Der Generalfehler der Leitungswasserdebatte ist aber, dass sie meist unter der Rubrik Sparsamkeit abgehandelt wird, also als Frage des Geldes. Dass der Geschmack, aber auch Umweltbewusstsein das Hauptmotiv hartnäckiger Nachfrage nach Leitungswasser sein kann, glaubt fast niemand.

In Frankreich hat seit den Sechzigern jeder Gast das Anrecht auf Gratiswasser

Leitungswasser war bis vor relativ kurzer Zeit tatsächlich so eine Sache. Der auch in kulinarischen Dingen äußerst engagierte Historiker Hans Ottomeyer, lange Chef des Deutschen Historischen Museums in Berlin, erinnert daran, dass Leitungswasser noch bis in die Achtziger meist "fast bis zur Ungenießbarkeit" mit Chlor versetzt war. Frühere Generationen hätten Oberflächengewässer, aus denen man im Alltag schöpfte, nur als verdreckte Brühe gekannt, weil sie hauptsächlich als Abwasserkanäle dienten. Selbst Brunnen lieferten selten klares Wasser, erklärt Ottomeyer, weil achtlos Unrat, Kadaver oder sonst wie Verdächtiges darin entsorgt wurde. Oder sie lagen im giftigen Grundwasserstrom des Friedhofs. Der Brunnenvergifter ist als Vater aller Unholde sprichwörtlich geworden. "Wirklich klares, gutes Wasser hatten nur Leute mit eigener Quelle oder Hochkulturen, die in der Lage waren, Quellwasser in die Städte zu leiten", sagt der Historiker.

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Selters, Urmarke des deutschen Mineralwassers, war lange Zeit ein gesuchtes Luxusgut, weil gesundheitlich absolut unbedenklich und damit die Ausnahme. Einst durften etwa in München Färber, Gerber und Kürschner an Brautagen nicht arbeiten. Da man aus den Zuflüssen der Isar schöpfte, wollte man keine giftigen Säuren und Laugen aus deren Abwasser im Bier haben. Im 19. Jahrhundert erkannte man städtische Gewässer als Brutstätten der Cholera und anderer teuflischer Gefahren. "Wasser macht Läuse im Bauch", haben noch die Großeltern nur halb im Scherz gewarnt. Das sitzt tief.

In vielen Nachbarländern ist es schon lange Brauch, dass für den Gast als Erstes eine Karaffe Wasser auf den Tisch kommt. Dies wohlgemerkt in Gegenden, deren Wasserqualität weit unter der deutschen liegt. In Frankreich, berichtet der Wassersommelier Armin Schönenberger, hat schon seit den Sechzigerjahren jeder Gast das gesetzliche Anrecht auf einen Krug Gratiswasser.

Leitungswasser polarisiert: Manchen schmeckt es besonders gut, anderen gar nicht

Dass neuerdings - eine kleine Sensation - im Münchner Stadtteil Schwabing ein neues Lokal einen Brunnen zum kostenlosen Wasserzapfen bietet, beeinträchtigt den Absatz an Mineralwasser nach Beobachtung des Personals kaum. Nicht einmal bei leidenschaftlichen Stillwassertrinkern, bei Kohlensäureliebhabern sowieso nicht. Dahinter steckt viel Gewohnheit, aber eben auch Geschmackssinn. Leitungswasser, so verrückt das klingt, polarisiert: Manchen schmeckt es besonders gut, anderen überhaupt nicht. Das hat damit zu tun, dass der Mineralgehalt normalerweise niedriger ist, dass es weniger sauer, irgendwie milder, neutraler schmeckt. Zwar ist Leitungswasser nicht überall so delikat wie in München oder auch im Saarland. Dennoch gibt es kaum einen Ort in Deutschland, an dem es nicht empfehlenswert wäre.

Noch dazu verträgt sich hoch mineralisches Wasser, ernährungsphysiologisch eigentlich von Vorteil, oft nicht mit sensiblem Geschmack und feinem Wein. Der Sommelier Schönenberger, selbst auch gelernter Koch, wundert sich deshalb regelrecht darüber, dass Gäste in anspruchsvollen Restaurants immer noch nicht klar beraten werden: Wenn in einem ausladenden Menü der Hauptgang ansteht, folgt auf den Weißwein gern ein tanninreicher Roter - und in dem Moment gelte es, auch den Wechsel des begleitenden Mineralwassers zu empfehlen. Kräftige Kohlensäure ist sich mit der sensiblen Säurestruktur eines feinen Weines spinnefeind, sie zerstört viel von seiner Delikatesse. Es gibt Fachleute, die zum Wild besonders starkes Sprudelwasser empfehlen, weil es dessen kräftige Geschmacksnoten "neutralisiere". Dabei soll Wasser überhaupt nichts neutralisieren, sondern wie der Wein die feineren Geschmackstöne stützen. So ist Wasser umso geeigneter als Essens- und Weinbegleiter, wenn es nur leise oder eben überhaupt nicht sprudelt.

In Wien führt jedes Gasthaus neben Mineralwasser auch Soda, und jeder weiß, das ist das fabelhafte aufgespritzte Leitungswasser. Auch in Deutschland schenkt man aufgespritztes Leitungswasser - ohne dass dem Gast das bewusst wäre - als "Tafelwasser" aus, was die meisten Kunden für eine Art Mineralvariante halten. Gewohnheit bestimmt eben den Geschmack, wie eben auch eine pompöse Aufmachung: Wenn Höchstpreislokale Mineralwassersorten von bis zu 100 Euro die Flasche anbieten, hat das mehr mit Verpackungsfirlefanz zu tun als mit Qualität. Auch mit Wasser wird geprotzt heutzutage. Und da kommen ernsthaft Menschen und insistieren auf Wasser aus der Leitung?

Wer Leitungswasser bestellt, wird schief angeschaut

Armin Schönenberger, der Wassersommelier, sieht das so: "Wasser ist ein Menschenrecht. Jeder Gast kann meiner Meinung nach überall Leitungswasser verlangen. Der Wirt kann das nicht verweigern, aber er hat nun mal das Hausrecht. Er kann bestimmen, zu welchem Preis er diese Leistung gewährt." Alles, was ein Wirt seinen Gästen bietet, soll seinen Preis haben. Auch Leitungswasser muss serviert werden und braucht ein ansprechendes Glas. Es auszuschenken ist Leistung. Leitungswasser darf im Lokal also etwas kosten.

Einen goldenen Weg beschreitet man in der Schweiz. Dort setzt sich eine Bewegung mit dem Namen "Wasser für Wasser" bei Gastwirten dafür ein, Leitungswasser als leckeres Urlebensmittel auszuschenken - und das zu einem nicht mickrigen Preis. Das Geld fließt in Projekte in Sambia, wo Wasser, erst recht klares Wasser, eine Kostbarkeit ist. So soll den Menschen in der Ferne geholfen werden - und den Menschen daheim dämmern, dass reines, klares Wasser keine Selbstverständlichkeit ist.

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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