Essen und Trinken:"Ein gutes Geschäft hält die Balance zwischen Seele und Profit"

Albert Adria

Sein heimliches Lieblingsgericht ist Pizza: Albert Adrià in seinem Gourmetrestaurant "Enigma" in Barcelona.

(Foto: David de Groppi)

Der katalanische Spitzenkoch Albert Adrià über Selbstverwirklichung am Herd und das Leben im Schatten seines weltberühmten großen Bruders.

Interview von Silke Wichert

Ein schmuckloser grauer Neubau in Barcelonas ehemaligem Arbeiterviertel Poble Sec. Eine Gittertür, dahinter eine namenlose Klingel. Nichts deutet darauf hin, dass hier einer der stilprägendsten Köche Europas seine Versuchsküche hat. Drinnen probiert Albert Adrià gerade Schokoladendesserts seines Chefkonditors, die er mit "brutal gut" goutiert. Das Regal neben ihm ist überhäuft mit Büchern und Auszeichnungen, dazwischen steht ein großes Nutella-Glas mit dem Namen: Albert.

SZ: Herr Adrià, kann es sein, dass Sie derjenige mit dem Geschäftssinn in Ihrer Familie sind?

Albert Adrià: Wie kommen Sie darauf?

Ihr Bruder hat mit dem "El Bulli", wo Sie auch gearbeitet haben, in den Neunzigerjahren die Gourmetküche revolutioniert, um 2011 auf dem Höhepunkt des Erfolgs zu schließen. Dafür haben Sie zuletzt ein trendsetzendes Restaurant nach dem anderen aufgemacht: fünf allein in Barcelona, im November den Desserttempel "Cakes & Bubbles" in London, im März "Mercado Little Spain" in Manhattan.

Was Zahlen angeht, ist Ferran eigentlich besser als ich. Aber wahrscheinlich habe ich mittlerweile mehr Erfahrung, was Geschäftsmodelle angeht. Keines meiner Restaurants ähnelt dem anderen, das mexikanische "Hoja Santa" ist ein ganz anderes Erlebnis und hat ein ganz anderes Konzept als das japanisch-peruanische "Pakta".

Sie haben einmal erklärt, für Sie sei ein Restaurant zuallererst Business. Darf man das als Avantgarde-Koch so sagen?

Früher sagte man immer, dass die besten Lokale das wenigste Geld machen. Das will ich nicht. Jedes meiner Restaurants wirft etwas ab - nicht viel, aber immerhin. Lieber fünf Kühe, die dir regelmäßig Milch geben, als nur eine, die du melkst, bis sie umfällt.

"Nicht viel" klingt etwas untertrieben. Ihr Tapas-Zirkus "Tickets", mit riesigen Erdbeeren und Zuckerstangen unter der Decke, ist Wochen im Voraus ausgebucht, im labyrinthartigen Sterne-Restaurant "Enigma" zahlen Gäste für 40 Mini-Gänge mehr als 200 Euro.

Aber wir haben vergleichsweise begrenzte Öffnungszeiten. Das hilft, die Seele meiner Lokale zu erhalten. Ich sperre mit wenigen Ausnahmen nur abends auf, im Tickets nur an 230 Tagen pro Jahr. Ich könnte dort viel mehr Geld machen. Aber wäre es dann immer voll? Wäre es noch das Gleiche? Ich glaube nicht. Ein gutes Geschäft hält die Balance zwischen Seele und Profit.

Warum dann so viele Projekte? Mercado Little Spain will nichts Geringeres sein als das spanische Pendant zum italienischen Fressdisneyland "Eataly", Stände mit Klassikern wie Tortilla und Churros, Bars, Restaurants - ein Riesenareal.

Die spanische Küche wurde schlecht exportiert, die richtig gute Qualität kennen die meisten gar nicht. Und so viele Projekte sind es nun auch wieder nicht. Jeden Monat kriegen wir acht Angebote für Kooperationen, die wir nicht annehmen. Einige muss ich machen, weil ich sonst meine Bankschulden nicht bedienen kann. Der Schlüssel zu meinen Restaurants in Barcelona ist, dass sie alle im gleichen Barrio im Umkreis von 500 Metern liegen. So kann ich überall nach dem Rechten sehen. Jetzt gerade ist Morchel- und Spargelsaison, die kaufen wir für alle Restaurants gemeinsam ein und kreieren hier die verschiedenen Rezepte, das spart Zeit und Kosten. Eigentlich ist es ein großer Laden mit fünf Abteilungen.

Hoja Santa ist bunt-mexikanisch, Bodega 1900 eine traditionelle Vermuteria mit Käse, Schinken oder Hackbällchen auf der Karte, im Enigma darf man weder Fotos machen, noch wird die Speisekarte veröffentlicht. Kann ein Koch auf so unterschiedlichen Terrains gut sein?

Ich mag mich nicht wiederholen. Mich interessiert die Ungewissheit: Was können wir mit einer Bodega anstellen? Wie wäre es mit einer Schokoladenfabrik? Ich will immer alles ausprobieren. Seit meiner Kindheit ist Neugier das Grundrezept für alles.

Ihre Mutter ging mit Ihnen häufig in den Zirkus. Kommt daher Ihre Faszination für Magie und Kunststücke in der Küche? Oliven, die sich beim Hineinbeißen als flüssige Sphäre ihrer selbst entpuppen, essbare Perlen, Desserts, die im Inneren einer Rose gereicht werden?

Kann gut sein. Meine Mutter liebte den Zirkus. Und "Heart", unser Restaurant mit Cirque du Soleil auf Ibiza, ist tatsächlich mein Herzensprojekt. Ich sage immer: Wir verkaufen kein Essen, sondern Glück.

Während früher alle von Ihrem großen Bruder redeten, spricht die Gastronomieszene jetzt vor allem über Sie. Vor zwei Jahren erschien der Dokumentarfilm "Constructing Albert", Netflix drehte eine Episode von "Chef's Table" mit Ihnen. Wie fühlt sich dieser Rollenwechsel an?

Es war ja meine eigene Entscheidung, im Schatten von Ferran zu stehen. Er wollte mich zweimal zum Teilhaber von El Bulli machen, ich habe zweimal abgelehnt.

Warum?

Im Hintergrund konnte ich mich besser konzentrieren. Wenn du die Kreativität nicht zu kanalisieren weißt, kann sie ein Monster sein, das dich auffrisst. Es gab Zeiten, da war ich reif für den Psychotherapeuten. Es gibt kein Ende beim kreativen Prozess. Im El Bulli zu arbeiten, war, wie ständig auf der Überholspur zu fahren.

Sie verließen mit 15 die Schule und folgten Ihrem sieben Jahre älteren Bruder ins El Bulli. Wussten Sie damals schon, dass Sie auch Koch werden wollen?

Nein. Mein Vater sagte, wenn du nicht weiter lernen möchtest, musst du arbeiten gehen. Also habe ich in einem Restaurant in Barcelona gejobbt. Nach ein paar Monaten bin ich dann zu Ferran, wo ich zuerst kochen lernte, später aber Pâtissier wurde - sicher auch aus Bequemlichkeit. Der eine kocht, der andere macht die Desserts.

Um dem großen Bruder nicht in die Quere zu kommen?

Unterbewusst vielleicht, aber ich mochte die Welt der Desserts, sie war irgendwie sauberer, bunter. Außerdem hast du am Abend nicht so schlecht gerochen.

Was die wenigsten wissen: Sie waren derjenige, der ab Ende der 90er-Jahre das berühmte "Taller" führte, das Atelier, in dem experimentiert wurde und die neuen Gerichte für das El Bulli entstanden.

Das war auch Ferrans Initiative. Er glaubte wohl, er müsse mir eine neue Aufgabe suchen. Ich ging damals durch eine schlimme Krise und wollte alles hinschmeißen. Wir hatten gerade den dritten Stern bekommen, es kam vieles zusammen.

"Mein Ego ist schon lange befriedigt"

Der dritte Michelin-Stern - und Sie denken ans Aufhören?

Es war mir alles zu viel, wir arbeiteten wie die Roboter. Also bin ich raus aus der Küche und fing an, mein Dessertbuch zu schreiben. Auf einer alten Olivetti, weil ich keinen Computer hatte. Morgens bin ich fischen gegangen an der Costa Brava. Das heißt, eigentlich waren wir Wilderer: Wir sind nach Frankreich rüber, weil es dort mehr Muscheln gab. Um 5 Uhr früh aufstehen, um vielleicht 40 Euro mit dem Fang zu verdienen! Meine Frau war damals Zimmermädchen, wir kamen gerade so über die Runden. Aber es war wichtig für mich, mir das zu beweisen. Erst da habe ich mich wieder ins Kochen verliebt und wollte zurück.

Das Taller galt als einer der ersten Thinktanks in der Gastronomie. Hier dachte man sich Dinge aus, wie Luftballons mit Gorgonzola zu füllen. Man hielt sie über flüssigen Stickstoff, um daraus Knusperkugeln zu formen.

Am Anfang waren wir nur zwei Köche. Dann kam ein Industriedesigner dazu, ein Parfumeur, ein Grafikdesigner, zwei Chemiker - das war einmalig damals.

2009 haben Sie das El Bulli dann doch noch verlassen. Warum?

Da wusste ich ja schon, dass Ferran irgendwann zumachen würde. Im Vertrauen hatte er mir immer gesagt, dass er sich mit 50 zur Ruhe setzt. Außerdem war ich gerade Vater geworden und wollte meinen Sohn aufwachsen sehen, meiner Frau helfen. Vorher war ich ja praktisch nie zu Hause.

So richtig ruhig dürfte Ihr Leben mit bald zehn Restaurants jetzt auch nicht sein.

Aber du stehst morgens ganz anders auf. Es ist ein Unterschied, ob du die Welt verändern willst - wie wir damals - oder nur glücklich mit deiner Arbeit sein. Der Druck ist nicht der gleiche. Natürlich wollen wir mit Enigma Avantgarde sein, aber das Restaurant steckt noch in den Kinderschuhen. Mein Ego ist schon lange befriedigt.

In Ihrem mexikanischen Restaurant standen Sie kürzlich in der offenen Küche, während Ihr Bruder mit ein paar Leuten am Tisch daneben saß. Passiert das häufiger, dass Sie für ihn kochen?

Ständig. Ferran sagt, er liebt mich jetzt noch mehr, weil er nun das Glück hat, mein Kunde zu sein. Wir behandeln ihn natürlich gut, und er zahlt immer seine Rechnung.

Beschwert er sich manchmal?

Nie.

Gibt er Ihnen Tipps?

Dauernd. Er hat die Telefonnummern von allen meinen Chefköchen. Aber das ist ja für uns der größte Luxus, einen Gast wie ihn zu haben.

Gab es nie Rivalität zwischen Ihnen?

Nie. Wir sind beide sehr introvertiert, sehr familienorientiert. Allerdings haben wir nur noch wenig Familie. Unsere Eltern sind vor ein paar Jahren gestorben, Ferran hat keine Kinder, ich einen Sohn - das war's. Auch deshalb sind wir sehr eng.

Sie haben einmal gesagt, die glücklichsten Momente seien vor dem großen Erfolg gewesen, wenn Sie und Ihr Bruder nach der Arbeit saure Gurken und Salami aus dem Kühlschrank aßen.

Wahrscheinlich, weil es sich nach Zuhause anfühlte. Wir sind beide früh ausgezogen. Zu Anfang hatten wir auch nicht so viel Stress - da kamen ja kaum Gäste ins El Bulli. Wenn du 15 beziehungsweise 22 bist, dann spürst du keine Verantwortung. Wir standen morgens auf und hielten uns für unsterblich, alles war möglich. Deshalb konnten wir sämtliche Regeln in der Küche über Bord werfen. Wir waren nie wieder so glücklich - obwohl wir nichts hatten. Aber wir lebten in der Natur und konnten uns ab und zu mit ein paar Bieren ans Meer setzen.

In ein paar Monaten soll das neue El Bulli eröffnen, an dem Ort, wo das alte Restaurant stand. Es ist als "Ausstellungs- und Forschungszentrum" angekündigt - wird es dort wirklich kein Essen geben?

Früher ging es im El Bulli um die Zukunft, im El Bulli 1846 soll es um die Vergangenheit gehen. Ferran ist besessen davon, die Geschichte des Essens zu verstehen. Wenn wir irgendwann entscheiden, dass es auch wieder punktuell ein Lokal sein soll, dann machen wir das zusammen. Wenn ich für einen Monat El Bulli das Tickets für einen Monat schließen muss, mache ich das halt.

Ihr Bruder sagte, mit El Bulli hätten sie am Ende "ein Monster" erschaffen. Wollen Sie das wirklich wiederbeleben?

Das ginge sowieso nicht. Es heißt vielleicht El Bulli, aber es wird nicht mehr das alte sein. Wir sind ja auch andere Menschen geworden. Ich hätte gar nicht mehr die Kraft dazu, höchstens punktuell. Früher kamen wir nie vor zwei, drei Uhr nachts ins Bett, heute gehe ich auch mal um 21 Uhr nach Hause, um mit meinem Sohn zu essen.

Sie haben vorhin gesagt, Sie verkaufen kein Essen, sondern Glück. Welches Essen macht Sie glücklich?

Pizza.

Nicht im Ernst.

Wieso nicht? Stellen Sie sich vor, ich hätte die Pizza erfunden. Ich wäre einer der meistgeliebten Menschen der Welt. Die Pizza macht dich glücklicher als diese Glühbirne hier über uns. Thomas Edison ist trotzdem berühmter. Eigentlich doch ungerecht.

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