Essen und Trinken:Aus dem Häuschen

Ein Wiener Züchter will die Weinbergschnecke wieder zu dem machen, was sie einmal war: eine Art Nationalgericht, für das Österreichs Hauptstadt in ganz Europa berühmt war.

Von Anne Backhaus

Aus dem Feld dringen merkwürdige Geräusche. Es klingt wie ein Kieselstrand, der ab und an von einer trägen Welle in Bewegung gebracht wird. Das sind die Weinbergschnecken. Sie drängen sich langsam umeinander. Ihre Gehäuse wanken auf den weichen Rücken, schlagen gegen das der Nebenschnecke. Das Klacken ist unterlegt von einem kratzenden Ton. Den machen tatsächlich die fressenden Schnecken. Mit den Tausenden, auf ihren Zungen sitzenden Zähnen schaben sie in aller Ruhe Rüben und Gurken ab.

Was sich anhört wie der Albtraum eines jeden Bauern ist der ganze Stolz von Schneckenzüchter Andreas Gugumuck. Auf seinem Feld am südlichen Stadtrand Wiens leben bis zu 500 000 Weichtiere. Die mitteleuropäische Weinbergschnecke, Helix pomatia, und verwandte Arten wie die etwas kleinere Petit Gris (Helix aspersa). Gugumuck beliefert mit ihnen die heimische Spitzengastronomie. Er verschickt sie aber auch an den Bayerischen Hof nach München oder bis nach Moskau. Meist "nature", also ohne Haus, aber entschleimt, die Innereien entfernt und gut zwei Stunden mit Suppengrün vom eigenen Feld gekocht. Verpackt halten sie sich so zehn Tage. Gugumuck ist das wichtig, denn er hat ein Ziel: Die Wiener Schnecke weltweit etablieren. Als "Superfood der Zukunft".

Ein bisschen irre klingt das schon. Bei Schnecken denken viele ja eher an gummiartige, in Kräuterbutter ersäufte Tiere. Dabei hätte die kohlenhydrat- und glutenfreie Weinbergschnecke das Zeug zur Trendnahrung. "Im Vergleich zu Fleisch haben sie auch eine viel bessere Ökobilanz", sagt Gugumuck. Für ein Kilo Muskelfleisch benötige er nur 1,7 Kilo an Nahrung, die er ohne Pestizide auf dem Hof anbaue. "Bei einem Kilo Rindfleisch reden wir von 14 Kilo Nahrung. Moment." Der 42-Jährige steht mit Schiebermütze, Dreitagebart und bunten Sneakern vor dem 2000 Quadratmeter großen Schnecken-Feld. Sein Handy klingelt. Er wird noch oft Anrufe beantworten müssen an diesem Nachmittag. Kooperationsanfrage aus Großbritannien. Termin mit einem Fotografen. Reservierungen für seine Bistroabende. Gugumuck hat zu tun.

Nur 1,7 Kilo Nahrung für ein Kilo Muskelfleisch. Die Ökobilanz der Schnecke ist beeindruckend

Alles fing als Test mit 20 000 Schnecken von einem deutschen Züchter an. 2010 übernahm Gugumuck dann den 400 Jahre alten Hof seiner Familie, um selbst zu züchten. Zwei Jahre später zeichnete ihn die EU mit dem Innovationspreis für Junglandwirte aus. Gugumuck ist ein Macher. Ein moderner Landwirt mit Instagram-Kanal. Seine Schnecken verkauft er auch als Gulasch mit Erdäpfeln oder als Ragout; in Gläsern, ohne Konservierungsstoffe. Auf seinem Hof bietet er Wochenendseminare zur Schneckenzucht an. Das Handbuch dazu hat er selbst verfasst, weil es auf Deutsch keine gute Literatur gab. Auf dem Feld soll bald ein Food-Truck in Schneckenhausform stehen. Er hat eine Future-Farm, einen Garten mit winterfestem Gemüse und Kräutern, klar, in Schneckenform angelegt. "66 Pflanzenarten. Ein Traum für jeden Koch", sagt Gugumuck. Dann erzählt er von der Zusammenarbeit mit Universitäten in Wien und Innsbruck, die mit seinen Schnecken an neuen Produkten forschen, von Hautcreme bis Klebstoff. Außerdem hat er sich das Wiener Schneckenfestival ausgedacht, bei dem seine Weinbergschnecken einmal im Jahr auf den Speisekarten von mittlerweile 80 Restaurants landen.

Essen und Trinken: Andreas Gugumuck beim Schnecken-Sammeln.

Andreas Gugumuck beim Schnecken-Sammeln.

(Foto: www.gugumuck.at/Karin Nussbaumer)

Weinbergschnecken gelten unter Feinschmeckern weltweit als Delikatesse. Landwirt Gugumuck will sie mit dem Festival am liebsten als Nationalspeise etablieren, allen Besuchern ihr "erdig nussiges Aroma" zugänglich machen. "Besonders in Österreich, wo alle wie verrückt Fleisch essen, sind Schnecken das Produkt der Zukunft. Viel Protein, keine großen Farmen. Keine Chemie und keine Käfigmast", sagt er. Zeigen kann er seine Weichtiere dann nicht, das Handy. Die Mutter übernimmt.

Helga Gugumuck blickt ihrem Sohn nach, der mit dem Telefon am Ohr zurück zum Hof läuft. Dann greift sie einen Eimer und öffnet die Pforte zum Gehege am hinteren Rand der Wiese, eine Art riesiger Sandkasten, mit Grünzeug überwuchert und von langen Bretterreihen durchzogen. Das Holz bietet den Schnecken Schutz vor der Sonne und erleichtert das Sammeln. Helga Gugumuck pflückt Schnecke für Schnecke von einem Brett, legt sie vorsichtig in den Eimer. "Als mein Sohn diese Idee hatte, habe ich die Hände vors Gesicht geschlagen", sagt sie. "Völlig verrückt war das." Nun arbeitet sie seit Jahren auf dem Hof mit.

Die Schnecken aus dem Eimer kommen in luftdurchlässige Plastikboxen. Nach Tagen ohne Nahrung ziehen sich die Weinbergschnecken in ihr Haus zurück und schlafen. So überwintern sie im alten Erdkeller des Hofes bis zum Frühjahr. Sind sie schon alt genug, werden sie schlafend gekocht. "Das ist sozusagen eine freundliche Methode des Schlachtens", sagt Helga Gugumuck. Für die Schlachtung und Verarbeitung haben die Gugumucks eine Manufaktur auf dem Hof eingerichtet. "Das hat sich mein Sohn alles allein ausgedacht, damit kennt sich ja niemand mehr aus."

Essen und Trinken: Der Küchenchef bereitet das Menü vor – sechs Gänge mit Schnecken.

Der Küchenchef bereitet das Menü vor – sechs Gänge mit Schnecken.

(Foto: Photo by Felix Mayr)

Andreas Gugumuck kannte sich auch nicht aus. Er arbeitete als Projektmanager bei IBM, als er anfing, mit Kumpels aus der Branche Witze zu machen. Darüber, dass sie endlich was mit ihren Händen schaffen wollten, weit weg vom Bürostress - Schneckenzucht oder so. Das fanden alle lustig. Gugumuck hat es nie vergessen. Dann entdeckte er das "Schneckenkochbuch" von Gerd Wolfgang Sievers. "Da habe ich gelesen, dass die Weinbergschnecke eigentlich ein traditionelles Wiener Nahrungsmittel ist", sagt er und lächelt erstmals. "Das holen wir uns zurück, habe ich da gedacht."

Als Mahlzeit setzten sich Weinbergschnecken in Wien einst durch, weil sich mit ihnen die christlichen Fastenregeln kreativ interpretieren ließen: Für die Kirche waren Schnecken weder Fisch, noch Fleisch - sie konnten also immer gegessen werden, wie übrigens auch Hummer, Austern oder Krebse. Schnecken waren aber günstiger. In Klostergärten widmeten sich Mönche der Zucht. Bis ins 19. Jahrhundert gab es im ersten Gemeindebezirk in Wien sogar einen eigenen Schneckenmarkt hinter der St. Peters Kirche. Dort verkauften "Schneckenweiber" die Kaltblüter gekocht und in Knoblauchbutter geschwenkt, in Schweineschmalz gebacken, mit Speck gebraten. Oder auf spezielle Wiener Art: gezuckert.

Ähnlich wie Froschschenkel oder Schildkrötensuppe kam Schneckenfleisch jedoch im Zuge der Umweltbewegung in Verruf. Die europäische Weinbergschnecke war zudem vom Aussterben bedroht. Das hatte zwar weniger mit Gourmets als mit Pestiziden zu tun, trug aber nicht zur Popularität der Schnecke auf den Tellern bei. Deswegen hat Gugumuck zusätzlich ein Hof-Bistro eingerichtet, in dem sein Küchenchef Dominik Hayduck an drei Freitagen im Monat ein Menü in einer offenen Küche zubereitet, sechs Gänge für 59 Euro. Die knapp 30 Plätze sind meist ausgebucht. Die Gäste kommen aus der Nachbarschaft, aber ebenso aus Russland oder Japan. "Manche fahren mit Limousine und eigenem Chauffeur vor", sagt Hayduck.

Kräuter-Schnecken

Zutaten (für 4 Personen): 24 küchenfertige Weinbergschnecken, 200 g weiche Butter, 3 gehackte Knoblauchzehen, 2 fein geschnittene Sardellenfilets, Zesten und Saft von einer halben, unbehandelten Zitrone, 8 fein gehackte Salbeiblätter, ein fein gehackter kleiner Bund Petersilie und ein Bund fein geschnittener Schnittlauch, 50 g Semmelbrösel, Salz und Pfeffer.

Zubereitung: Die temperierte Butter in einer Schüssel mit allen Zutaten gut vermengen und abschmecken. Die Schnecken in eine Schneckenpfanne geben und die Kräuterbutter auf ihnen verteilen, so dass sie gut bedeckt sind. Bei 180 Grad in den vorgeheizten Backofen (Oberhitze oder Umluft) geben und etwa zehn Minuten gratinieren, bis sie eine goldbraune Kruste haben.

Das Menü entwickelt der 28-Jährige immer neu, auch je nach eigenem Gemüse, das gerade geerntet werden kann. An diesem Abend gibt es als Gabelbissen Schneckenkaviar auf Traubengelee, frittierten Federkohl mit Schneckenleber und mit Karotte umwickelten Schneckentartar mit Knoblauch-Mayo. Danach Verjus-Schnecken mit Kürbissuppe, Blumenkohl mit Wiener Schnecke und Sot-l'y-laisse, Rote-Bete-Risotto mit Petit Gris, gratinierte Schnecken in drei Buttervariationen und zum Schluss Zuckerschnecke mit Zwetschgenmousse und Schildampfersud. Bei jedem Gang schmecken die Schnecken ganz anders. Mal etwas muffig, manchmal herb oder gar fruchtig. "Sie sind perfekte Geschmacksträger", sagt Hayduck, der sich erst ans Kochen mit Weichtieren gewöhnen musste und daran nun die kulinarischen Experimente mag. "Geht nicht - das habe ich auf diesem Hof noch nie erlebt."

Noch ist das Bistro-Team klein. Hayduck kocht, Gugumuck serviert. Irgendwann aber will Andreas Gugumuck ein eigenes Restaurant haben. Natürlich am alten Schneckenmarkt in Wien.

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